Soldaten bei Militärübung in Estland
Soldaten bei Militärübung in Estland
Quelle: Fabian Weiß
27.01.2017 – n-ost Reportage

Die Liga der Partisanen

Die hybride Kriegsführung Russlands in der Ukraine hat im Baltikum alte Ängste wiedererweckt. Immer mehr Esten lassen sich darum zu wehrhaften Bürgern ausbilden. Ein Feature von ­n-ost-Korrespondentin Simone Brunner, Narwa.

Narwa (n-ost) – Die ganze Nacht ist Taavi Tuisk durchmarschiert. Im Morgengrauen hat er Sprengfallen entschärft und sich vor feindlichen Truppen versteckt. Jetzt ist er über eine Landkarte des Gegners gebeugt. Keine leichte Aufgabe, wenn man seit gestern Abend 35 Kilometer in den Beinen hat und gerade mal 20 Minuten Schlaf. Und dann ist die Karte auch noch auf Kyrillisch.

„So kann ich einen kleinen Beitrag leisten, um mein Land zu verteidigen“

Der Osten Estlands. Verschneite Hügel, Birkenwälder, Sümpfe. Es weht ein eisiger Wind bei Minusgraden. Einmal im Jahr wird hier ein militärisches Überlebenstraining als Wettkampf in Vierer-Teams abgehalten. Warum die feindlichen Stellungen auf der Karte gerade auf Russisch geschrieben sind? „Dass die Russen unsere Feinde sind, ist nun mal ein Szenario, das wir oft durchspielen“, lacht Tuisk. Er sieht nicht wie ein rechter Fanatiker aus: drahtig, freundlich, schwarze Hornbrille. Der 39-jährige Familienvater arbeitet in einer Berufsschule auf der Insel Saaremaa. „So kann ich einen kleinen Beitrag leisten, um mein Land zu verteidigen“, sagt er.

Mit dem Wettkampf soll an die Schlacht in Utria von 1919 erinnert werden, als estnische und finnische Guerilla-Kämpfer die Rote Armee aus einem Hinterhalt in die Flucht geschlagen haben – eine Schlacht, die bis heute als Sieg im „Estnischen Unabhängigkeitskrieg“ gefeiert wird. 1940 wurden die baltischen Staaten infolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetmacht annektiert. Doch heute sind die Partisanen modern ausgerüstet: Sturmgewehr, Schneetarnanzug, Stirnlampen und GPS. 28 Teams messen sich im Partisanenkampf: Beschuss orten, mit dem Maschinengewehr schießen und Verwundete versorgen.

„Wir haben Kämpfer in jeder Stadt, jedem Dorf, ja fast jedem Haus.“

Die russische Aggression in der Ukraine hat im Baltikum alte Ängste geweckt. Nicht ohne Grund: Immer wieder kommt es im baltischen Luftraum zu Verletzungen durch russische Militärflugzeuge. Seit 2014 ist die Zahl der estnischen Paramilitärs um zehn Prozent nach oben gegangen, auf aktuell knapp 16.000 Männer und Frauen. Mit den Jugendorganisationen kommt der „Nationale Verteidigungsbund“ („Kaitseliit“), der dem Freiwilligenverband der Streitkräfte angehört, sogar auf 25.600 Mitglieder, umgerechnet beteiligt sich jeder 50. Bürger Estlands. Die estnische Armee zählt dagegen nur 6.000 Mann. Auch in Litauen und Lettland haben Freiwilligenorganisationen seit 2014 einen starken Zuwachs verzeichnet.

Einen „Sicherheitsteppich“ nennt das Sprecher Neeme Brus. „Wir haben Kämpfer in jeder Stadt, jedem Dorf, ja fast jedem Haus.“ Die Selbstverteidiger sind derweil keine Hysteriker oder rechten Fanatiker, sondern Lehrer, IT-Entwickler, Studenten oder Unternehmer. „Es geht nicht darum, dass ich Angst vor einem Krieg habe“, sagt die 29-jährige Kellnerin Ruth aus Tartu, die zum ersten Mal teilnimmt. „Aber wenn eines Tages doch etwas passieren sollte, ist es gut, gewisse Dinge zu wissen.“

Also alles doch nur eine Abschreckung?

Dass der US-Präsident Donald Trump vor seiner Amtseinführung die Rolle der NATO mehrmals infrage stellte, wird hier derweil mit vorsichtiger Sorge gesehen. Immerhin sprechen die Fakten am Boden derzeit eine andere Sprache: Im Baltikum werden derzeit mit der NATO-Aktion „Enhanced Forward Presence“ knapp 2.000 NATO-Soldaten stationiert, in Polen sind dieser Tage rund 4.000 US-Soldaten gelandet. Zudem wurde ein bilaterales Militärabkommen zwischen Estland, Lettland, Litauen und den USA abgeschlossen. Was NATO-Kritiker als „Säbelrasseln“ kritisieren, sehen die Balten, die seit 2004 NATO-Mitglieder sind, als Garant ihrer Unabhängigkeit. „Ich habe großes Vertrauen in die Checks and Balances des US-Systems und zweifle nicht an ihrer Bereitschaft, die Weltordnung zu sichern“, so der Kaitseliit-Kommandant Meelis Kiili.

Der Wettkampf endet in der Stadt Narwa, direkt an der russischen Grenze. Am gleichnamigen Grenzfluss erhebt sich auf der estnischen Seite die mächtige Hermannsfeste, im Mittelalter von den Dänen gegründet und später an den Deutschen Orden verkauft. Die Sorgen um ein „Donbass-Szenario“, über das vor allem in Hinblick auf die russische Minderheit, die hier mehr als 90 Prozent der Einwohner stellt, immer wieder spekuliert wurde, haben sich als völlig unbegründet erwiesen. Zu groß sind die Privilegien als EU-Bürger, trotz einer umstrittenen Minderheitenpolitik der Esten. Es ist dennoch eine skurrile Szenerie: die Teams erklimmen mit letzter Kraft die Festungsmauern, während Gewehrfeuer von den Zinnen donnert. Von drüben, der anderen Seite des Flusses, der Stadt Iwangorod, weht schon die russische Fahne.

Also alles doch nur eine Abschreckung? „Wenn Sie eine Alarmanlage in ein Haus oder eine Wohnung einbauen, werden Sie auch keine 100-prozentige Garantie gegen Einbrecher haben“, sagt Madis Milling, der für die Reformpartei im estnischen Parlament sitzt. „Aber der Einbrecher wird es sich zumindest zwei Mal überlegen. Russland muss verstehen, dass es sich nicht lohnt, Estland anzugreifen.“

Inhalt erstellt: 27.01.2017, zuletzt geändert: 12.02.2019

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