19.02.2019 – Ukraine

Im Kreuzfeuer zwischen Kiew und Budapest

Seit anderthalb Jahren streiten die Ukraine und Ungarn über das westukrainische Transkarpatien. Budapest wirft Kiew vor, die dort lebenden Ungarn mit einem neuen Schulgesetz zu diskriminieren. Kiew wiederum kritisiert scharf, dass Budapest ungarische Pässe an ukrainische Staatsbürger verteilt.

Eine Reportage von n-ost-Korrespondent Denis Trubetskoy, Berlin.

Uschhorod (n-ost) – „Sag mal, wann genau kommst du an, nach meiner oder nach eurer Zeit?“, lacht Ihor aus der transkarpatischen Hauptstadt Uschhorod ins Telefon. In den kommenden Tagen wird Ihor versuchen, den Gast aus Kiew durch das Dickicht diplomatischer Befindlichkeiten und durch die Bruchzonen nationalstaatlicher Identität zu navigieren. Seine Frage, in welcher Zeitzone man denn nun lebe, irritiert, weil es in der Ukraine nur eine, die offizielle, Zeitzone gibt – eigentlich.

Trotzdem ticken die Uhren im Lande anders, je nachdem wen man fragt, je nachdem wohin man kommt. Auf der illegal von Russland annektierten Halbinsel Krim gilt die Moskauer Zeit, ebenso in den von prorussischen Separatisten besetzten Gebieten im Donbass. In Transkarpatien – wo Kiew im Leben der Menschen kaum eine Rolle spielt – orientiert man sich wiederum am Nachbarland Ungarn: „An der Grenze, im Kreis Berehowe, wo die Ungarn mit 76 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen, gilt nur noch die ungarische Zeit“, erklärt Ihor. In Uschhorod, anderthalb Fahrtstunden Richtung Norden von Berehowe entfernt, „hat man sowohl Budapest als auch Kiew in Kopf“ sagt Ihor. Doch der Konflikt, den die ethnischen Ungarn Transkarpatiens mit der Regierung in Kiew ausfechten, geht weit über die Differenz der Zeitzone hinaus.

Zu Beginn des Jahres schaffte es Uschhorod, mit etwa 115.000 Einwohnern die größte Stadt Transkarpatiens, sogar in die deutschen Medien. Manuel Ochsenreiter, Chefredakteur der rechtsradikalen Monatsschrift „Zuerst!“ und zu dem Zeitpunkt noch Mitarbeiter des AfD-Abgeordneten Markus Frohnmaier, soll einen im Februar 2018 verübten Brandschlag auf ein ungarisches Kulturzentrum in Auftrag gegeben haben – mit dem Ziel, die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Kiew und Budapest noch komplizierter zu machen, indem man den Anschlag ukrainischen Nationalisten in die Schuhe schiebt.

Dass das Klima so angespannt ist und sich sogar die internationale Rechte um die Destabilisierung der Region bemüht, geht vor allem auf ein 2017 verabschiedetes ukrainisches Schulgesetz zurück, dessen Artikel 7 vorschreibt, dass der Unterricht ab der 5. Klasse mit Ausnahme weniger Fächer nur noch in der Staatssprache, also auf Ukrainisch, stattfinden darf. Für ethnische Ungarn ist das ein Riesenproblem: Im Berehowe-Kreis scheitern jetzt schon jährlich über 60 Prozent der Schulabsolventen an der Ukrainisch-Prüfung. Dass Kiew sich so drastisch zu Ungunsten der eigenen Minderheit einmischt, führt bei ethnischen Ungarn zu Wut und Unverständnis.

Der Konflikt hat zu diplomatischen Verwerfungen zwischen Budapest und Kiew geführt, der Ton der Debatte klingt immer schriller. In zwei Jahren soll das Gesetz greifen, Budapest will die Übergangsperiode auf drei weitere Jahre strecken. Kiew ist nicht daran interessiert, die Initiative aufzugreifen. Als Revanche droht Ungarn jetzt, die EU-Integration der Ukraine solange zu blockieren, bis Kiew einlenkt und die Übergangsperiode verlängert.

Von Kiew nach Uschhorod im schrottreifen Kleinbus

„Ich kehre morgen vom großen Land zurück“, sagt die 20-jährige Emilia, eine aus Uschhorod stammende Jura-Studentin, ins Telefon, als sie am Stadtrand Kiews in einen alten weißen Mercedes Sprinter mit niedriger Decke und zerfledderten Sitzen einsteigt.

800 Kilometer und das Karpaten-Hochgebirge trennen Kiew und Uschhorod; 800 Kilometer, die man nur in ständig ausgebuchten und überfüllten Zügen überbrücken kann. Oder, indem man sich in die heruntergekommenen Fahrzeuge der halblegalen Busanbieter quetscht, die ihre besten Jahre lange hinter sich haben.

„Allein durch die fehlende Infrastruktur und die schlechte Anbindung spürt man die Abgrenzung“ meint Emilia, während sich der Kleinbus langsam durch den Stau an der Stadtgrenze Kiews quält. „Viele meiner Freunde, waren zwar schon in Ungarn und in anderen EU-Ländern, haben es aber nie nach Kiew geschafft.“ Sie bedauert das, weil Kiew deutlich lebendiger und gerade für junge Menschen viel attraktiver sei. Emilia selbst will es auch als Sängerin versuchen, rechnet sich in Kiew größere Chancen aus. Sie stammt aus einer klassischen transkarpatischen Familie: Ihr Vater hat ungarische Wurzeln, die Vorfahren ihrer Mutter stammen aus der Ukraine und Polen. Und sie selbst spricht sowohl Ukrainisch und Russisch als auch Ungarisch: „Das ist typisch hier.“

Großes Land und Abgrenzung hin oder her – durch den starken westlichen Einfluss ist Transkarpatien seit jeher eine besondere Region der Ukraine. Das historisch von Ungarn geprägte Gebiet wurde im 20. Jahrhundert immer wieder anderen Staaten zugeschlagen; Teile der Region gehörten zu Rumänien, der Tschechoslowakei sowie zu Ungarn – bevor die Sowjetunion noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Kontrolle übernahm. Als die UdSSR zerfiel, stimmten die Transkarpaten in einem Referendum über ihre Autonomie innerhalb der Ukraine ab. Darauf ist Kiew nie eingegangen. Heute ist in Transkarpatien eine ungarische Parallelwelt entstanden: Budapest ist nur 330 Kilometer von Uschhorod entfernt –viel näher als Kiew.

Bilinguale Taxifahrer und ein ausgewiesener Konsul

Die Taxifahrer, die morgens um vier Uhr vor dem Bahnhof in Ushgorod warten, werben vorsorglich auf Ukrainisch und Ungarisch um Fahrgäste – Zweisprachigkeit im Servicebereich ist in Transkarpatien ein Muss. „Ich finde das gut“, sagt Emilia, die wie viele andere junge Schulabsolventen die Wahl zwischen dem Studium in der Ukraine und Ungarn hatte. In ihrer Klasse hat sich die Mehrheit für Ungarn entschieden. „Dass an der Grenze einige kein Ukrainisch können, ist katastrophal. Aber, dass auch viele Menschen gleich zwei Sprachen auf muttersprachlichem Niveau sprechen, das ist doch vor allem eine Chance.“ Emilia kann sich ihre Zukunft nach dem Ende des Studiums sowohl in Kiew als auch in Budapest vorstellen, obwohl sie selbst zugibt, dass ihre Chancen im Jura-Bereich mit einem ukrainischen Abschluss in der Ukraine natürlich viel größer seien, weil sie sich in erster Linie auf die ukrainische Gesetzgebung konzentriert hat.

Die Frage ist jedoch, wie die politischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn aussehen werden, wenn sie in drei Jahren mit der Uni fertig ist, denn mittlerweile sind sie so schlecht wie nie zuvor. Mitten im Streit um das Schulgesetz tauchte im Herbst im Internet ein Video aus dem ungarischen Konsulat in Berehowe auf, das von der ukrainischen staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform aufgegriffen wurde. Der Streifen zeigt, wie Ukrainer die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten und Mitarbeiter sie anweisen, den ukrainischen Behörden nichts davon zu erzählen. Das ist deshalb brisant, weil die doppelte Staatsbürgerschaft in der Ukraine verboten ist.

Daraufhin musste der ungarische Konsul Erno Keskeny die Ukraine verlassen. Die umstrittene Website „Myrotworez“, die mit dem ukrainischen Innenministerium in Verbindung gebracht wird, veröffentlichte ein Register mit mehr als 300 Personen (meist Staatsbeamte und Lokalabgeordnete) mit doppelter Staatsbürgerschaft und stellte sie an den digitalen Pranger. Schlimmer noch: Die Liste enthält neben Namen, Geburtsdatum und Geburtsort teilweise auch detaillierte Informationen, zum Beispiel den Wohnort.

Hat man transkarpatische Ahnen, winkt der ungarische Pass

Auch Ihor und seine Ehefrau Bianca haben zwei Pässe. Sie wollen nicht erkannt werden, haben Angst vor den Konsequenzen. Die beiden empfangen mich mit heißer Schokolade in ihrer renovierten Zweizimmerwohnung, nur wenige Gehminuten vom Zentrum Uschhorods entfernt. Auf dem Boulevard spielen Straßenmusiker Songs der ukrainischen Rockbands Okean Elsy und Platsch Jeremiji genauso wie ungarische Schlager. In den kleinen Buchhandlungen werden größtenteils Bücher auf Ungarisch angeboten.

„Die Realität ist“, setzt Ihor an, „dass 25-30 Prozent der transkarpatischen Bevölkerung den ungarischen Pass haben. Vor acht Jahren hat Ungarn die Prozedur deutlich erleichtert, ich habe meinen Pass 2015 bekommen, Bianca ein Jahr später.“ Das Einzige, was man für einen erfolgreichen Antrag braucht: Den Beweis, dass eigene Vorfahren vor 1944 im Gebiet des heutigen Transkarpatiens gelebt haben. Das hat dazu geführt, dass fast jeder Transkarpate das Dokument bekommen hat. Ihor sagt: „Mittlerweile prüft Ungarn die Anträge deutlich sorgfältiger, doch für Menschen, die die Vorgaben erfüllen, ist der Antrag immer noch aussichtsreich.“

Ein ehemaliger Journalist, der Hilfsarbeiter scoutet

Früher war Ihor Journalist, aber seit der Maidan-Revolution und vor allem seit er seinen neuen Pass besitzt, hat er umgesattelt: Er koordiniert die ukrainischen Arbeitskräfte eines ungarischen Landwirtschaftsunternehmens. Das heißt: Er sucht nach Ukrainern mit ungarischem Pass, die im Nachbarland arbeiten wollen. „Wäre ich ein ukrainischer Verantwortlicher, würde ich mir echt Sorgen machen. Die besten Leute wollen in Ungarn arbeiten, auch wenn sie etwas machen müssen, das völlig unter ihrer Qualifikation liegt“, sagt der 41-Jährige. „Bei den jungen Menschen ist das besonders schlimm. Es bleiben meist nur die, die unqualifiziert sind.“ Es gebe es massenhaft Arbeit, die nicht besonders angenehm sei, trotzdem würden mehr Jobs nachgefragt, als tatsächlich zur Verfügung stünden.

Dass Ungarn für viele Menschen in Transkarpatien attraktiver ist, ist keine Neuigkeit. Jenseits der Grenze können die Ukrainer durchschnittlich 750 Euro monatlich verdienen – das sind 500 Euro mehr als Zuhause. Für die ethnischen Ungarn ist das eine Kalkulation die aufgeht: „Das ist der Grund, warum ethnische Ungarn sich zwar gen Budapest orientieren, aber den politischen Status Quo und ihren persönlichen Status einer halboffiziellen Sonderwirtschaftszone behalten wollen. In Ungarn wird das Geld verdient – in der Ukraine wird es ausgegeben", sagt Ihor.

Obwohl Ihor nicht auf der Myrotworez-Liste steht, hat er Angst, dass sein ungarischer Pass ihm in der Ukraine Probleme bereiten könnte. „Wenn die Sache weiter eskaliert, wird seitens Kiews weiter abgeschreckt, die Myrotworez-Veröffentlichung war kein Zufall. Außerdem könnten sich auch die Angriffe auf ungarische Einrichtungen wie die im Februar häufen. Machen wir uns nichts vor: Jeder, der den ungarischen Pass hat, kann von Kiew auf die Fresse kriegen.“

Doch liegt die Verantwortung für die aktuelle Situation nur an Kiew? Ihor sagt: „Nein. Eskaliert wird von beiden Seiten. Schön, dass Ungarn uns öffentlich verteidigt. Doch ich sehe nicht, worauf Budapest mit der Blockade der europäischen Integration der Ukraine hinauswill. Das hat nicht mit uns Transkarpaten zu tun; mit dieser nationalistischen Politik gewinnt man nur bei den Orban-Anhängern zu Hause.“
Das Paar schickt seinen 14-jährigen Sohn Andri auf eine ungarischsprachige Schule. Auf dem Weg dorthin trifft Ihor seinen Kollegen Laslo. Der sieht die Sache anders: „Ungarn gibt uns das Gefühl, zu etwas dazu zu gehören, das interessiert die ukrainischen Behörden überhaupt nicht. Sie wollen von unserem Leben und unseren Problemen nichts wissen. Und allein dafür lohnen sich die Aktionen von Budapest.“

Doch wie sehen die Söhne von Ihor und Laslo die Situation an den Schulen, abgesehen von allen Emotionen ihrer Eltern? „In unserer Klasse haben wir schon Leute, die schlecht Ukrainisch und Russisch sprechen“, sagen Andrij und Janosch. „Natürlich wird es solche Kinder immer wieder geben, deswegen ist das ein Problem. Im Privaten spielt das aber keine Rolle, da ist es egal, wer welche Sprache spricht.“ Trotzdem gilt: Je näher an der Grenze, desto größer das Problem.

„Die Distanz zwischen Uschhorod und Kiew wird immer größer.“

Ein transkarpatischer Schulleiter, der vor dem Konsulats-Skandal noch ein langes Interview zugesagt hatte, lehnt Interviewanfragen jetzt ab. Mittlerweile nämlich müssen diese mit der höheren Führungsebene abgestimmt werden. Man dürfe nichts sagen, was die Eskalation noch verschärfen könne. Andernfalls drohen Konsequenzen, die über eine Geldstrafe für inakzeptables Verhalten hinausgehen. „Das Schulgesetz ist in der Tat der Knackpunkt. Klar sollen die Kinder, die in der Ukraine leben, Ukrainisch auf muttersprachlichem Niveau beherrschen, das ist gar keine Frage“, sagt er dann doch nach einigem Nachhaken. „Das kannst du aber nicht von heute auf morgen durchsetzen, da kriegst du nur Ärger und Probleme. Unzählige Eltern sind richtig, richtig sauer – wir Lehrer übrigens auch.“ Das bestätigt Ihor: „Die Gespräche, die ich mit anderen Eltern führe, sind oft laut, immer emotional. Diese Unzufriedenheit ist gefährlich – eine Abspaltung Transkarpatiens ist für mich nicht vorstellbar, aber die Distanz zwischen Uschhorod und Kiew wird immer größer.“

Ist Transkarpatien also neben der Krim und dem Donbass der nächste ukrainische Krisenherd? Dass hier die Frage nach nationalstaatlicher Souveränität bald ernsthaft gestellt wird, ist unwahrscheinlich, schließlich stellen die Ukrainer immer noch etwa 80 Prozent der Bevölkerung des gesamten Regierungsbezirks. Dass Ungarn Interesse an dem Grenzgebiet haben könnte, ist unwahrscheinlich. Dennoch bleibt die Lage brandgefährlich, solange der Konflikt schwelt.

Zwei Tage nach unserem Treffen wird Ihor wieder für mehrere Monate nach Ungarn reisen. Meine Rückfahrt verbringe ich dann in einem Nachtzug, für den ich in letzter Sekunde ein Ticket kriegen konnte – entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Ich spreche lange mit einem Wagenleiter, der ungarische Wurzeln hat. Als wir Zwischenhalt in Lwiw machen, scherzt er: „Willkommen in der Ukraine!“. Ob das wirklich scherzhaft gemeint war, kann keiner von uns genau sagen.

Dieser Text wurde vom internationalen Journalistennetzwerk n-ost produziert und vom Osteuropa-Hilfswerk Renovabis gefördert.

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Inhalt erstellt: 19.02.2019, zuletzt geändert: 09.07.2019

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