Die Schülerin Azra Keljalić vor ihrer Berufsschule in Jajce
Die ehemalige Schülerin Azra Keljalić vor ihrer Berufsschule in Jajce. Hier haben sich Jugendliche erfolgreich dagegen gewehrt, getrennt nach Religion und Nationalität unterrichtet zu werden.
Quelle: Jasmin Brutus, n-ost
N-Ost-Reportage

Bosnien und Herzegowina: Gegen die Teilung

In Jajce, einer Kleinstadt im multiethnischen Zentralbosnien, haben sich Jugendliche dagegen gewehrt, getrennt nach Nationalität und Glauben unterrichtet zu werden.

Dieser Beitrag stammt aus der gemeinsamen Artikelreihe „Lernen ist Leben“ von Renovabis und n-ost. Eine Reportage von Krsto Lazarević (Text) und Jasmin Brutus (Fotos).

In Bosnien und Herzegowina werden Schülerinnen und Schüler nach Nationalität und Glauben getrennt. Immer wieder versuchen ethnonationalistische Parteien, mit Angst und Ressentiments Politik zu machen, obwohl der Krieg seit 23 Jahren vorbei ist. In Jajce, einer Kleinstadt im multiethnischen Zentralbosnien, haben sich Jugendliche dagegen gewehrt. Mit Erfolg.

Die 18-jährige Azra Keljalić steht vor ihrer alten Berufsschule. Ein kleiner Eingangsraum führt in das dreistöckige Gebäude. An der Wand ein Graffito, auf dem in bunten Lettern prangt: „Gemeinsam erschaffen wir etwas.“ Es ist das Motto einer Schule, deren Schüler sich gegen die ethnische Trennung in Bosnien und Herzegowina aufgelehnt haben. Eine Trennung, die seit dem Krieg von ethnonationalistischen Parteien vorangetrieben wird. Sie haben durchgesetzt, dass schon Erstklässler nach Religion und Ethnie getrennt werden. Zwar ist der Krieg seit 23 Jahren vorbei, trotzdem gibt es immer wieder Vorstöße, die Menschen strikt in Bosniaken, Kroaten und Serben zu trennen. Eine Trennung, die damit begründet wird, dass die Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden sollen, obwohl sich bosnische, kroatische und serbische Sprache kaum voneinander unterscheiden.

Schüler in der Berufsschule von Jajce, Bosnien und Herzegowina.
Die Schülerinnen und Schüler in ihrer Berufsschule in Jajce.
Quelle: Jasmin Brutus, n-ost

Drei Jahre ist es her, dass Azra Keljalić die Nachricht erhielt, dass sie und ihre Mitschüler zukünftig nach Religion und Nationalität getrennt werden sollten: „Wir waren schockiert und wussten sofort, dass wir das nicht zulassen dürfen.“ Diese Segregation hatte Azra Keljalić schon acht Jahre in der Grundschule erlebt, sie wollte nicht hinnehmen, dass es so weitergeht. Schon gar nicht an ihrer weiterführenden Schule. Die nämlich orientierte sich an kroatischen Lehrplänen, was sie als Bosniakin nicht weiter störte. Am Ende seien die Konzepte sowieso Makulatur: „Ich war auf einer getrennten Grundschule, nach bosnischem Plan. Dann war ich auf der weiterführenden Schule nach kroatischem Plan und jetzt bin ich auf der Universität nach serbischem Plan. Die Lehrpläne sind alle gleich.“
Trotzdem wollte der zuständige Kanton in Jajce eine Schule eröffnen, in der nach bosnischem Lehrplan unterrichtet wird. Der Kanton Zentralbosnien hat rund 270.000 Einwohner und gehört zu den Teilen Bosniens und Herzegowinas, die auch nach dem Krieg noch multiethnisch geprägt sind. Immer wieder schüren die ethnonationalistischen Parteien aller Volksgruppen Ängste, eine Gruppe könne die andere dominieren. Die alten Ressentiments, die in Kriegszeiten eingeübt wurden, um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren, brechen sich auch im Schulsystem Bahn. Das Ergebnis: getrennte Schulen in einem getrennten Land.

„Äpfel und Birnen soll man nicht mischen"

„Äpfel und Birnen soll man nicht mischen. Äpfel zu den Äpfeln und Birnen zu den Birnen.“ So erklärte einst die zuständige Bildungsministerin Greta Kuna, warum kroatische und bosniakische Kinder getrennt unterrichtet werden sollten. In Bosnien und Herzegowina trägt dieses Konzept den euphemistischen Namen „Zwei Schulen unter einem Dach“. Die Realität ist zynisch: Die Schüler werden zeitlich und räumlich getrennt voneinander unterrichtet, einzige Gemeinsamkeit: das Gebäude.
Die Schüler in Jajce wollten den Krieg, der vor ihrer Geburt endete, nicht mehr weiterführen. Sie legten sich mit dem überkommenen System an, das ethnische Trennung forcierte und ihre Zukunft aus politischem Kalkül aufs Spiel setzte. Den Protest zu organisieren, war schwierig. Am letzten Tag vor den Sommerferien hatte man die Klassen darüber informiert, dass der Unterricht in Zukunft getrennt stattfände. Da waren die meisten schon in im Urlaub.
Azra Keljalić tat sich mit Freunden zusammen, mobilisierte Freunde aus anderen Schulen, um gemeinsam zu demonstrieren. Das blieb nicht folgenlos: Ein Direktor dieser Nachbarschulen, Mitglied der bosnisch-kroatischen Partei HDZ, drohte seinen Schülern unverhohlen, sie rauszuschmeißen, wenn sie es wagten, sich dem Protest anzuschließen. „Manche Schüler mussten maskiert an den Demonstrationen teilnehmen, um keinen Ärger zu bekommen“, sagt Azra Keljalić. Sie hatten Erfolg – vorläufig: Als die neue Schule nach den Sommerferien nicht eröffnete, dachten die Schüler, der Kampf sei gewonnen. Im nächsten Jahr versuchten es die Behörden wieder. „Diese Mal waren wir besser vorbereitet“, sagt Azra, „ wir mobilisierten Menschen aus dem gesamten Kanton, waren landesweit organisiert.“ Und sie hatten mächtige Unterstützer gefunden: Zuspruch kam von der deutschen und US-amerikanischen Botschaft, von der OSZE. Der Schülerprotest machte Furore.

Der Bürgermeister

Zu Beginn der Proteste unterstützte Edin Hozan, Bürgermeister von Jajce, die ethnische Trennung. Es gebe eine Petition von Eltern betroffener Schüler, auf die müsse man hören. Doch Azra Keljalić war nicht überzeugt. „Die Petition wurde uns nie gezeigt und es gab sie wohl auch nie. Angeblich kamen alle Unterschriften aus einem Dorf in der Nähe – es gab mehr Unterschriften als Einwohner. „Aber als klar wurde, dass die meisten Medien auf unserer Seite stehen, hat der Bürgermeister seine Meinung geändert und unsere Proteste unterstützt.“
Edin Hozan trägt Sakko über seinem blau-rot karierten Hemd. Er ist gelernter Maschinenbauer, an Azra Keljalićs Schule hat er selbst unterrichtet. Er ist Mitglied der ethnonationalistischen bosniakischen Partei SDA. Der Bürgermeister führt gern durch seine Stadt, zeigt die vielen Sehenswürdigkeiten. Heute sagt er: „Die Kinder wurden nicht getrennt und das macht uns stolz.“ Warum er die Schüler nicht von Anfang an unterstützt habe? Er wirbt um Verständnis: Die Schule habe ein kroatisches Hoheitszeichen verwendet, das Rot-Weiße Schachbrettmuster und kein bosnisches Symbol. Viele in Jajce sind sich sicher: Der Sinneswandel des Stadtoberen habe weniger mit seiner Überzeugung als vielmehr mit der Angst zu tun, er und seine Partei könnten am Ende schlecht dastehen. Ganz überzeugt ist der Bürgermeister immer noch nicht, schließlich gebe es Fächer, „bei denen es besser ist, wenn wir sie getrennt unterrichten.“ Darauf besteht er weiterhin. Er glaubt, dass sonst die „kulturelle Identität“ der Menschen in Gefahr sei. Viele seiner Wähler glauben das auch.

Der Lehrer

Der 40-jährige Tarik Zjajo trägt Ziegenbart, Sneaker und ein weites Hemd. Er widerspricht dem Bürgermeister: „Muttersprache und Geschichte sehe ich ein, aber was die sich bei Geografie, Musik und Bildender Kunst gedacht haben, kapiere ich nicht.“ Tarik Zjajo arbeitet seit 16 Jahren an der Schule in Jajce. Von Anfang an stand er auf der Seite der Schüler. So wie die meisten anderen Lehrer auch. Nur zwei, drei seien gegen die Proteste gewesen, meint er. Der Lehrer erklärt, dass die Kinder nach acht Jahren Trennung an der Grundschule zusammen in seine Klasse kämen: „Am Anfang der neunten Klasse setzen sich dann erst die Katholiken zu den Katholiken und die Muslime zu den Muslimen.“ Doch das ändere sich nach wenigen Wochen: „Dann setzen sich die Schüler nicht mehr nach der Religion, sondern nach Interessen zusammen. Die Fußballer zu Fußballern, die Hip Hopper zu Hip Hoppern.“
Zjajo hat Deutsch gelernt, als er 1992 als Kriegsflüchtling nach Weinsberg bei Heilbronn kam. Nach Kriegsende kehrte er in seine Heimat zurück - als Deutschlehrer. In die Bundesrepublik zurück möchte er nicht: „Jemand muss ja hierbleiben und den Menschen Deutsch beibringen. Sie gehen sowieso dorthin. Ich bin dann der letzte, der das Licht ausmacht.“

Azra will bleiben

Azra Keljalić bestätigt, dass die Hälfte ihrer Mitschüler inzwischen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind. Die meisten in München und Umgebung. Ein Studium beginnen dort nur die wenigsten. Viele schlagen sich mit Hilfsjobs auf dem Bau oder in der Gastronomie durch. Keljalić will bleiben. Zum Software-Engineering Studium ist sie ins von bosnischen Serben dominierte Banja Luka gezogen. Für eine Bosniakin ist das keine Selbstverständlichkeit.

Europaschulen in Bosnien und Herzegowina

Nicht alle Schulen in Bosnien und Herzegowina sind getrennt. Es gibt Europaschulen im Land, in denen die Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Eine davon ist das Schulzentrum des heiligen Josef in der Hauptstadt Sarajevo, das auch von Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, unterstützt wird.
Der 68-jährige emeritierte römisch-katholische Weihbischof Pero Sudar gründete die Schule am 19. November 1994. Zu einer Zeit, als Sarajevo belagert wurde. Er sagt: „Damals hagelten täglich hunderte Granaten auf die Stadt und der Unterricht musste im Keller stattfinden. Und trotzdem hatten wir katholische, orthodoxe, muslimische und auch ein paar jüdische Schüler bei uns. Wenn man es will, dann geht es auch.“

Schüler an der katholischen Privatschule Sankt Josef in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Vor der Klasse stehen ein Lehrer und der Schuldirektor, Rev. Mario Cosic.
Schüler an der katholischen Privatschule Sankt Josef in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Vor der Klasse stehen ein Lehrer und der Schuldirektor, Rev. Mario Cosic.
Quelle: Jasmin Brutus, n-ost
Jugendliche im Klassenzimmer
Das Schulzentrum St. Josef in der Hauptstadt Sarajevo wird von Renovabis unterstützt.
Quelle: Jasmin Brutus, n-ost

Anfangs sollte die Schule ein Ort für katholische Kinder sein, um Anreize für bosnische Kroaten zu schaffen, in Sarajevo zu bleiben. Doch dann entschied Pero Sudar, mit seinen Kollegen eine gemeinsame Schule aufzubauen: „Wir wollten damit ein Zeichen setzen. Für uns war die Eröffnung dieser Schule ein Protest dagegen, dass sich die Menschen in Sarajevo voneinander entfernen.“
An der Schule gibt es das gemeinsame Fach Religionsgeschichte, das alle Schüler gemeinsam besuchen. Zusätzlich haben die Schüler Religionsunterricht oder Ethik. Andere Fächer werden nicht getrennt unterrichtet – stattdessen hat man andere Lösungen gefunden – zum Beispiel für den muttersprachlichen Unterricht.
„Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch. Die Schüler können ihre Sprache nennen wie sie wollen und sie sich so ins Zeugnis eintragen lassen. Wir verstehen uns alle und das sollte wirklich kein Grund sein, die Kinder zu trennen.“

In Jajce schaut Azra Keljalić mit Stolz auf das Graffito vor ihrer Schule: „Wir haben zusammen etwas aufgebaut und darauf sind wir stolz.“ Die Studentin kehrt immer wieder zurück ins Jugendzentrum von Jajce und erzählt der jüngeren Generation von ihrem Kampf gegen den Nationalismus und die Trennung. Sie glaubt nicht, dass der Kampf ausgekämpft ist. Sie ahnt, dass der Kanton wieder versuchen wird, die Jugendlichen zu trennen. Aber der Erfolg ihres Protests macht ihr Hoffnung: „Ich bin mir sicher, dass die Generation nach uns dann wieder dagegen auf die Straße gehen wird.“

Lesen Sie auch

GoEast

Deutsch-bosnisch-albanische Jugendbegegnung in Sarajevo

Sieben junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wuppertal berichten über ihre Erlebnisse in Sarajevo im August 2019. Die von Renovabis geförderte Reise wurde von "vision: teilen/Chance! Wuppertal e.V." in Zusammenarbeit mit dem Jugendzentrum Johannes Paul II. in Sarajevo organisiert.
Weiterlesen
Inhalt erstellt: 05.11.2019, zuletzt geändert: 20.02.2020

Unsere Newsletter