Alexander Bondarev baut sich in Riga nach einer lebensgefährlichen Erkrankung zusammen mit seiner Familie ein neues Leben auf.
Alexander Bondarev baut sich in Riga nach einer lebensgefährlichen Erkrankung zusammen mit seiner Familie ein neues Leben auf.
Quelle: Ekaterina Anokhina, n-ost
18.12.2017 – Reportage

Ein russischer Zufluchtsort

Riga ist eine russische Insel. Jedoch nicht nur, wegen der Alteingesessenen. Seit einigen Jahren ziehen zunehmend Russen, die unzufrieden mit Putins Politik sind, in die lettische Hauptstadt.

Eine Reportage von n-ost-Korrespondent Maxim Kireev, Riga

Riga (n-ost) – „Wäre ich in Russland geblieben, wäre ich wahrscheinlich schon tot“, scherzt Alexander Bondarew. Der gebürtige Petersburger sitzt in der Küche seiner vor kurzem gekauften Plattenbauwohnung am Stadtrand von Riga. Seine Frau Irina serviert Tee und Croissants und versucht noch, den Schock wegzulächeln.
„Er war schon ganz blau angelaufen“, erinnert sie sich. Der Krankenwagen kam schnell. Eine gefühlte Ewigkeit drückte der Notarzt verzweifelt seine Hände auf Bondarews Brust, um sein Herz zum Schlagen zu bekommen – auch noch, als seine Kollegen auf die Uhr schauten, um den Zeitpunkt des Todes zu vermerken. „Dann plötzlich hat es geklappt. Ich bin so dankbar“.

Dass Alexander an seiner Lungenembolie nicht gestorben ist, rechnen die beiden der lettischen Medizin an. Es ist auch ein Gedanke, der die Familie darin bekräftigt, alles richtig gemacht haben. Im Juli verkauften sie ihre kleine Wohnung in St. Petersburg, lösten Bondarews Tabakpfeifenwerkstatt auf, meldeten die zwei Kinder im Kindergarten ab und nahmen Abschied von Freunden und Familie.

„Natürlich hätte ich auch in Russland Glück haben können, aber das Gesundheitssystem ist nur eine von vielen Sachen, die in Lettland besser funktionieren als in Russland“, ist Bondarew überzeugt. Das habe auch mit Politik zu tun, mit einer funktionierenden Demokratie. „Für mich war spätestens nach der Zerschlagung der Bolotnaja-Proteste und nach Putins erneutem Amtsantritt 2012 klar, dass wir keine Chance auf Besserung haben.“ Und so suchte der Familienvater Möglichkeiten, auszuwandern, bis er schließlich erfuhr, dass er selbst lettische Wurzeln hat. Dank seines Urgroßvaters also hat er in der Baltenrepublik sofort eine ständige Aufenthaltsgenehmigung bekommen.

Die Bondarews gehören zu den fast 18.000 Russen, die sich nach Angaben des lettischen Zentralen Statistikbüros seit 2011 in dem Land niedergelassen haben. Die amtliche russische Statistik ist weniger vollständig, weil viele Umzügler ihre Wohnungen in Russland behalten und sich gar nicht erst abmelden. Doch auch nach russischen Angaben hat sich die Zahl der Auswanderer zwischen 2011 und 2016 auf knapp 1.000 jährlich verfünffacht. Viele entstammen jener Mittelschicht, die mit Putins Politik und auch dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Stillstand unzufrieden ist. Es sind Unternehmer, Ärzte, IT-Spezialisten oder Journalisten. Lag die Wirtschaftsleistung pro Kopf in beiden Ländern 2012 etwa gleichauf, so liegt der russische Wert heute gut ein Drittel unter dem des Nachbarlandes.
Doch auch der lettische Staat macht seine Tür bei weitem nicht für alle auf. Wer nicht wie Bondarew lettische Wurzeln hat, der muss entweder ein begehrter Spezialist sein, 250.000 Euro in eine Immobilie investieren, oder ein Unternehmen in Lettland anmelden, das jährlich mindestens 10.000 Euro Steuern zahlt. Erst kürzlich wurde der Schwellenwert bei Immobilien noch verdoppelt.

Dennoch bleibt Lettland für viele Russen attraktiv. Denn neben der politischen Freiheit und dem verhältnismäßigen Wohlstand kann Riga noch immer als die russischste EU-Hauptstadt gelten. Auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion machen Russen gut 40 Prozent der Bevölkerung Rigas aus. Zwar klagen viele alteingesessene Russen, die zur Sowjetzeit übersiedelten, über Diskriminierung. Schließlich gewährte ihnen Lettland nach der Trennung von der UdSSR nicht die eigene Staatsbürgerschaft. Zudem regeln strenge Sprachengesetze den Alltag, so dass etwa im Stadtbild keine russischen Aushänge oder Werbung zu sehen sind.

Gleichzeitig ist das Russische allgegenwärtig. Aus den Autoradios dröhnt russische Popmusik, während die Bedienung im Café ins Russische wechselt. Bisher noch wird in Schulen auch auf Russisch gelehrt, ein neues Gesetz jedoch sieht vor, dass ab 2020 an vielen Schulen und Kindergärten nur noch auf Lettisch unterrichtet wird. Das birgt Konfliktpotenzial in einer so deutlich auch russisch geprägten Stadt, in der selbst der Bürgermeister, Nil Uschakows, ein ethnischer Russe ist.

„Die Versuchung ist wirklich groß, ständig nur Russisch zu sprechen, selbst bei Behördengängen“, sagt auch Maria Jepifanowa. Das mache es nicht gerade einfach, sich beim Lettischlernen zusammenzuraufen. Die 26-jährige Moskauerin ist Journalistin und zog vor knapp zwei Jahren nach Riga. In Moskau arbeitete sie zwar bei der oppositionellen Nowaja Gazeta, um ihre Sicherheit fürchten, musste sie sich aber nicht. Ganz anders als ihr Mann, ein russischer Umweltaktivist, der gegen die Eröffnung eines Nickel-Werks bei Woronesch protestierte und wegen eines drohenden Strafverfahrens das Land verlassen musste.

Heute arbeitet Jepifanowa bei der Baltischen Nowaja Gazeta, einem Ableger des Moskauer Blattes, das sich an Russischsprachige in den baltischen Ländern richtet. Die Idee, eine neue unabhängige Zeitung zu gründen, kam Jepifanowa und ihren Kollgen nach der Krim-Krise, als das Problem russischer Propaganda immer präsenter wurde. Viele Russen in Lettland, aber auch Estland und Litauen, schauen noch immer russisches Staatsfernsehen oder lesen aus Russland finanzierte Portale. „Bei den alteingesessenen Russen herrscht oft ein sehr idealistisches Bild von Russland, deswegen hört man als Neuankömmling immer die Frage, wieso man denn um Himmels Willen nach Lettland ziehe, wo in Russland doch alles perfekt laufe“, sagt Jepifanowa und lacht ungläubig.

Für sie als Journalistin hat ihr Leben in Lettland vor allem Vorteile. „Die Ministerien und Politiker sind viel offener als in Russland, es ist viel einfacher an Informationen zu kommen“, erklärt die Russin. Und auch Riga kann sie viel Positives abgewinnen. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in einer großzügigen Altbauwohnung mitten in der Innenstadt, eingerichtet mit Möbeln im Rigaer Jugendstil. In Moskau kostete eine solche Bleibe ein kleines Vermögen. Doch die entspannte Wohnungssituation hat eine Schattenseite.

„Wenn wir abends spazieren gehen, sehen wir die vielen dunkler Fenster, was daran liegt, dass viele Letten ausgewandert sind“, erklärt die Journalistin.Tatsächlich hat Lettland eine tiefe demografische Krise durchlebt. Zwar konnte seit 2004, als das Land der EU beigetreten ist, relativer Wohlstand geschaffen werden. Gleichzeitig haben allein in den letzten zehn Jahren 250.000 Menschen, oder gut zehn Prozent der Bevölkerung, das Land verlassen. Zu groß ist noch immer das Wohlstandsgefälle zu den alten EU-Mitgliedern. Auch die Hauptstadt verlor seit der Jahrtausendwende mehr als 100.000 Einwohner, jeden siebten.

Andrej Rodionow sieht den EU-Beitritt dennoch optimistisch. „Viele aktive Letten verlassen das Land, dadurch tun sich für uns Russen als neue Migranten Möglichkeiten auf, in Nischen vorzustoßen und das Potenzial zu nutzen“, erklärt er. Rodionov sitzt im oberen Stockwerk der nagelneuen Nationalbibliothek von Riga, die von außen an eine aufgeschnittene Pyramide erinnert. Jeder, der herkommt, kann hier arbeiten und sich in einem der Konferenzräume niederlassen. „Kostenlose Arbeitsplätze, was braucht man mehr“, freut sich der 26-jährige.

Seit zwei Jahren lebt der Student und Jungunternehmer schon in Riga. „Mir war schon auch wichtig, dass das hier eine russischspachige Stadt ist, und gleichzeitig doch Europa“, sagt er. In Rjasan, seiner Heimatstadt, gehörte er zu den wenigen jungen Aktivisten, die öffentlich gegen Putin demonstrieren wollten. „Nachdem ich 2011 auf einer Oppositionsdemo festgenommen wurde, beschwerten sich die örtlichen Sicherheitsbehörden bei der Universitätsleitung über mich. Das war die erste Alarmglocke“. Der Siedepunkt war jedoch mit der Annexion der Krim erreicht. „Da hatten selbst meine Eltern begriffen, dass es besser ist, dass ich nicht in Russland lebe“.

Er begann zu suchen, und stellte fest, dass man in Lettland auch als Student eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten kann. Und es war recht einfach gewesen, sich einzuschreiben. Als Rodionow nach Riga kam, hatte er nur eine Freundin in der Stadt, bei der er anfangs untergekommen ist. Mittlerweile hat sich der Wirtschaftsstudent eingelebt, Lettisch gelernt und kennt die Stadt beinahe so gut wie die Alteingesessenen. „Lettland ist für die meisten Russen nicht wegen der Löhne attraktiv, es geht vielmehr darum, dass das öffentliche Leben reibungsloser funktioniert und man für seine Steuern am Ende mehr bekommt“, sagt er.

Sein Geld verdient der Russe zwar noch in der alten Heimat. Zusammen mit einem kleinen Freelancer-Team baut er Webauftritte. Nebenbei berät er Unternehmer aus Russland, die sich gerne in Lettland niederlassen würden. Sechs Leute hat Rodionow so schon nach Lettland geholt. „Es gibt in Russland superviele Talente, die die auswandernden Letten ersetzen können. Da tun sich Chancen auf, zumal es auch aus EU-Töpfen Fördergelder gibt“.

Alexander Bondarew hat sein kleines Unternehmen, die Pfeifenwerkstatt, auch ohne Fördergelder nach Lettland verfrachtet. Nach und nach schaffte er mit seinem Citroën die Werkzeuge nach Riga und mietete sich einen Gewerberaum. Die meisten Pfeifen verkauft er über das Internet an Kunden in Russland. Pro Stück liegen die Preise schnell bei mehreren Hundert Euro. „Noch fühle ich mich wegen der OP nicht kräftig genug, aber bald will ich wieder durchstarten“, erklärt der 34-jährige. Schließlich hat der Ex-Petersburger ein Ziel. Bald soll die Werkstatt so viel Geld abwerfen, dass er sich eine größere Wohnung für sich und seine Familie leisten kann, wo sie sich dann richtig niederlassen können. Ein Zuhause, das nicht mehr in einem sowjetischen Plattenbau am Stadtrand liegt und das nicht an das Vorstadtviertel in Sankt-Petersburg erinnert.

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Inhalt erstellt: 18.12.2017, zuletzt geändert: 12.02.2019

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