Villa in Rumänien
„Hier wohnt mein ältester Sohn mit seiner Familie. Zuletzt waren sie über Weihnachten hier. Sie arbeiten alle in Linz in Österreich“, erklärt Ana Tat kurz. Jeden Samstag putzt sie in einem der sechs protzigen Häuser, die ihren drei Kindern und fünf Enkeln gehören.
Quelle: George Popescu, n-ost
19.09.2017 – Rumänien

Luxusvillen auf dem Land

Negresti Oas ist untypisch für Rumänien: Der Ort schwimmt im Geld, denn viele aus dem Dorf haben sich als erfolgreiche Bauunternehmer im Ausland niedergelassen. Um ihre protzigen Villen daheim kümmert sich meist nur noch die ältere Generation.

n-ost-Themenreihe: „Gehen oder bleiben?“ - in Kooperation mit Renovabis

Eine Reportage von n-ost-Korrespondent Silviu Mihai (Text) und George Popescu (Fotos), Negresti Oas / Certeze

Negresti Oas/ Certeze (n-ost) – Ana Tat steht früh auf, füttert das Vieh und macht sich auf den Weg zu ihrem ersten Haus. Die frisch gestrichene Fassade mit abgedunkelten Fenstern und Doppelverglasung hebt sich von dem ländlichen Hintergrund aus Wiesen und Heuhaufen ab. Aus einem schweren Schlüsselbund sucht Tat den passenden Schlüssel. Die Eingangstür geht auf. Es ist Hochsommer, doch aus dem großzügigen Wohn- und Essbereich grüßt ein geschmückter Weihnachtsbaum aus Plastik.

„Hier wohnt mein ältester Sohn mit seiner Familie. Zuletzt waren sie über Weihnachten hier. Sie arbeiten alle in Linz in Österreich“, erklärt Tat kurz. Dann macht sie sich an die Arbeit. Jeden Samstag putzt sie in einem der sechs protzigen Häuser, die ihren drei Kindern und fünf Enkeln gehören. Die Nachkommen selbst sind höchstens zweimal im Jahr in Rumänien: Ihr Lebensmittelpunkt liegt seit Ende der 1990er Jahre in Österreich und Italien. Ihre beiden Söhne sind Bauunternehmer, ihre Tochter arbeitet als Pflegerin. Doch für „Tante Ana“, wie die 64-Jährige von ihren Nachbarn genannt wird, spielt diese Tatsache nur eine untergeordnete Rolle.

Ungefähr jeder fünfte bis sechste Rumäne verdient sein Geld im Ausland.

Ana Tat ist immer in Bewegung. Sie ist eine typische rumänische Bäuerin, strahlt aber eine moderne Leichtigkeit aus. Rasch wischt sie den Staub von den Oberflächen, kehrt den Boden und poliert Gläser.

In der Gegend um die kleine Stadt Negresti Oas im Nordwesten Rumäniens ist die agile Seniorin eher die Regel als die Ausnahme: Seit 2002, als rumänische Staatsbürger ohne Visum in die EU einreisen durften, sind drei bis vier Millionen Bürger in den Westen abgewandert – ungefähr jeder fünfte bis sechste Rumäne verdient sein Geld im Ausland.

Doch selten findet man Orte, an denen das Phänomen der Auswanderung so massiv und gleichzeitig so erfolgreich ist wie in der kleinen Region Tara Oasului. Die Hauptstraße von Negresti führt an koketten Villen mit gepflegten Gärten vorbei, dann weiter Richtung Norden, über sanfte Hügel und durch ein halbes Dutzend ähnliche Dörfer bis zur ukrainischen Grenze. Überall sieht man eine bunte Mischung aus Farben und Stilen, von pompösen, klassizistischen Dekorationen bis hin zu zeitgenössischen, urbanen Formen.

„Anhand der Hängegeranien und fleißigen Menschen fühlt man sich hier wie in den Voralpen“, kommentieren Bukarester Medien in ihren gelegentlichen Reportagen aus der Gegend, die rund 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt.

Impression aus dem rumänischen Certeze
„Außerdem haben wir vom Staat nie sehr viel erwartet. Wenn wir gebrechlich werden, können wir uns ja auf unsere Kinder verlassen.“ Ob die größtenteils in Westeuropa geborene Enkelgeneration das auch so sieht, steht auf einem anderen Blatt.
Quelle: George Popescu, n-ost
Bürgermeister Petru Ciocan in seinem Büro
„Leider profitiert unsere Gemeinde kaum von diesem Wohlstand“, stellt Petru Ciocan, der Bürgermeister des benachbarten Dorfs Certeze fest. „Die Einkommen werden ja im Ausland besteuert, und die vor Ort gebliebenen Nutznießer von Überweisungen können wir nicht zur Kasse bitten. Wir haben Villen und dicke Autos, aber noch keine Kanalisation.“
Quelle: George Popescu, n-ost
Luftbild von Certeze/ Rumänien aus dem Jahr 2011.
Luftbild von Certeze/ Rumänien aus dem Jahr 2011.
Quelle: George Popescu, n-ost
Villa im rumänischen Certeze.
„Früher hielten viele Menschen hier in der Gegend Schafe, verkauften Käse, Milch und Kleidung aus Wolle“, erinnert sich Ana Tat. „Und wir trugen unsere schweren Volkstrachten, wie wir es heute nur noch auf Festen tun. Aber nach der Wende sind viele gegangen, um Geld zu verdienen.“
Quelle: George Popescu, n-ost

Die neuen Fenster und Fassaden der Villa glitzern in der Sonne.

Tatsächlich wird in Negresti und in der ganzen Umgebung viel gewerkelt und gebaut. Komplexe oder anstrengende Arbeiten an ihren Häusern, die die meisten Rumänen sonst an Fachleute delegieren oder eben sein lassen, erledigen hier erstaunlich viele selbst.

In Ana Tats Familie haben fast alle Männer langjährige Erfahrung im Bausektor. „Fliesen und Holztäfelung sind ihre Stärke“, sagt sie über ihre beiden Söhne. Trotz Wirtschaftskrise und Sprachbarrieren haben sie es geschafft, ihre Selbstständigkeit als Bauunternehmer auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Während ihrer seltenen Besuche werde hier geschafft, erklärt Tat und zeigt auf ein noch nicht fertig gebautes Haus, das bald ihrem 16-jährigen „italienischen“ Enkel gehören soll.

Die neuen Fenster und Fassaden der Villa glitzern in der Sonne. Es ist warm, und es riecht nach frisch gemähtem Heu. Anders als in den meisten rumänischen Kleinstädten und Dörfern sind fast keine Menschen in den Gassen zu sehen. Die übliche Geräuschkulisse aus Hundebellen, Hahnkrähen und lauter balkanischer Volksmusik fehlt. Lediglich zwei Ziegen spielen auf der Wiese, die sich bis weit hinter die Häuser erstreckt. „Früher hielten viele Menschen hier in der Gegend Schafe, verkauften Käse, Milch und Kleidung aus Wolle“, erinnert sich Ana Tat. „Und wir trugen unsere schweren Volkstrachten, wie wir es heute nur noch auf Festen tun. Aber nach der Wende sind viele gegangen, um Geld zu verdienen.“

Arbeitslosigkeit und Armut sind mittlerweile nur noch vage Erinnerungen

Die Seniorin schweigt eine Sekunde, dann fügt sie schnell hinzu: „Auch wir haben natürlich damals dafür gesorgt, dass unser älterer Sohn schon mit 16 Jahren einen Pass bekommt, damit er in Österreich arbeiten kann. Jetzt ist er vierzig geworden.“ Sie schweigt wieder. Drinnen verfügen Salon und Wohnküche über alle Annehmlichkeiten des westlichen Komforts mit Umluftherd, Dunstabzugshaube und großem Kühlschrank. Nur die etwas schrillen Wandfarben erinnern daran, dass Westeuropa woanders liegt.

Bis vor kurzem besuchte Ana Tat regelmäßig ihre Kinder – und arbeitete selber immer wieder ein paar Monate in der Nähe von Rom in der Landwirtschaft. „Tomaten pflücken, Orangen, solche Sachen. Manchmal auch Wohnungen putzen.“ Ein Leben ohne Arbeit kann sich Tat nicht vorstellen, und sie hält sich nicht für zu alt dafür. „Aber meinen Mann schon“, lacht sie. „Um den muss ich mich jetzt kümmern, er ist ja nicht mehr so gesund wie früher.“

Längere Auslandsaufenthalte sind also nicht mehr vorgesehen, dafür pflückt sie jetzt unter der Woche etwa die Gurken im Nachbargarten. „Das Geld brauche ich ja eigentlich nicht, aber ich kann auch nicht so einfach nur zuhause sitzen und nichts tun.“ Die Gartenbesitzer freuen sich ungemein: In Negresti und in der ganzen Gegend lassen sich seit Jahren so gut wie keine Arbeitskräfte finden. Arbeitslosigkeit und Armut sind mittlerweile nur noch vage Erinnerungen aus den frühen 1990er Jahren, als die Staatsunternehmen ihre Belegschaften entließen und den Startschuss für die Auswanderung gaben.

„Leider profitiert unsere Gemeinde kaum von diesem Wohlstand“, stellt Petru Ciocan, der Bürgermeister des benachbarten Dorfs Certeze fest. „Die Einkommen werden ja im Ausland besteuert, und die vor Ort gebliebenen Nutznießer von Überweisungen können wir nicht zur Kasse bitten. Wir haben Villen und dicke Autos, aber noch keine Kanalisation.“ Die Lösung sieht Ciocan in den EU-Strukturfonds, die er in den nächsten Jahren noch mehr in Anspruch nehmen möchte. „Das ist im Moment die einzige Möglichkeit, damit das erwirtschaftete Einkommen unserer ausgewanderten Landsleute wieder zu uns zurückfließt“, sagt er.

Auch Ana Tat würde mehr öffentliche Investitionen begrüßen. Doch ähnlich wie viele andere Menschen, die noch in der Gegend wohnen, erlaubt ihr Alter ihr eine gewisse Gelassenheit. „Außerdem haben wir vom Staat nie sehr viel erwartet. Wenn wir gebrechlich werden, können wir uns ja auf unsere Kinder verlassen.“ Ob die größtenteils in Westeuropa geborene Enkelgeneration das auch so sieht, steht auf einem anderen Blatt.

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Inhalt erstellt: 19.09.2017, zuletzt geändert: 12.02.2019

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