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Reportagereihe von n-ost
Quelle: gemeinfrei
06.11.2017 – n-ost Reportage

Rückkehrer in Sofia

Wie viele junge Bulgaren sahen Rali und Kristian für sich keine Möglichkeiten in ihrem Land. Beide haben sie ihre Heimat verlassen. Inzwischen sind sie zurück – und alles ist anders. Kristian ist froh, wieder zuhause zu sein, Rali hingegen ist enttäuscht.

„Siehst du die Klimaanlagen?“, fragt Kristian Mitov, als er durch eine der schmalen Straßen in Sofia spaziert und zeigt auf einen grauen Kasten, der an der Fassade eines Wohnhauses hängt. „Sie stehen für das Streben der Menschen nach einem besseren Leben“, erklärt er. Damals, im Sozialismus, habe man den heißen Sommer ohne kühlende Luftzufuhr aushalten müssen. Mittlerweile ist das Geld da, aber der Platz fehlt.

„Ich mag diese Gegend“, sagt Kristian. Der 33-Jährige ist in die Kapuze seines dunkelgrünen Parkas gehüllt, sein freundliches Gesicht ist kaum zu erkennen. Es ist einer der ersten Herbsttage, die Wolken hängen tief. Als Stadtführer kennt Kristian all die Ecken, die die Touristen ohne ihn nie finden würden: Die alten Gassen, die Knieläden, für die man in die Hocke gehen muss, um dem Verkäufer in die Augen schauen zu können, die versteckten Innenhöfe. Sofia, das ist die Stadt, in der er aufgewachsen ist und in der seinen Eltern seit Jahrzehnten ein kleines Keramikatelier gehört. Trotzdem war er gegangen. Eine n-ost-Reportage mit Video von Lena von Holt.

Sieben Jahre hat er Wirtschaftsingenieurwissenschaften in Mannheim studiert. Ein deutscher Motorenhersteller, für den er schon während seiner Schulzeit jobbte, wollte ihm ein Studium in Deutschland finanzieren. Vorausgesetzt, er komme zurück, um wieder für das Unternehmen zu arbeiten. Er ging – mit dem Wissen, dass es nicht für immer sei.

Anders als Rali Dimitrova. Als die heute 37-Jährige Bulgarien im Alter von 20 Jahren verließ, wusste sie nicht, ob sie jemals zurückkommen würde. Weil sie ihrer Heimat eine zweite Chance geben wollte, ist sie vor vier Monaten zurückgekehrt. Einen Kühlschrank, ein Flachbildfernseher, die zwei Urnen ihrer verstorbenen Katzen – die Wohnung ist noch so gut wie leer, obwohl Ehemann Louis, ein Amerikaner, schon acht Monate hier wohnte, als Rali einzog. „Ich weiß schon genau, wie es mal aussehen soll“, hallt es durch den Raum. Rali steht in ihrer unfertigen Küche, die schwarzen Haare zu einem strengen Zopf gebunden, Perlenohrringe, ein pastellfarbenes Blumenkleid, das bis auf den weißen Fliesenboden reicht. Obwohl alles um sie herum nach Ankommen aussieht, will sie am liebsten gleich wieder weg.

Mit dem Gefühl, sich nicht weiterentwickeln zu können, hatte sie Sofia damals verlassen. Da war ihre Schwester schon in Dubai. „Du solltest auch herkommen“, sagte sie. Rali kam und wurde nicht enttäuscht. „Du lernst die ganze Welt an nur einem Ort kennen“, erzählt sie und setzt dann noch mal an: „Listen“, sagt sie auf Englisch – von ihrem bulgarischen Dialekt ist 17 Jahre nach ihrem Wegzug nichts mehr übrig. „Ich hatte erwartet, dass ich mich nach meiner Rückkehr zuhause fühlen würde. Ich hatte das Land so vermisst.“ All die Jahre ohne Familie, ohne zu wissen, wie ihre Freunde aufgewachsen sind. Die Zeiten der Not und der politischen Umbrüche im Land hat sie verpasst. „Ich bin einfach davongelaufen“, sagt sie schuldbewusst.

Obwohl Rali keine Ausbildung hat, verdiente sie in den Vereinigten Arabischen Emiraten gut genug, um sich sieben Autos, zwei Schlafzimmer und einen Silvesterurlaub auf Sri Lanka zu leisten. Anfangs putzte sie in einem Hotel, später leitete sie einen Business Club, in dem Manager und Scheichs ein- und ausgingen. In Bulgarien, das ist ihr bewusst, würde sie nicht annähernd so viel Geld verdienen, aber darum gehe es ihr nicht. Sie will etwas erreichen. Was sie nicht will: Ein Leben als Hausfrau. Stillstand in ihren Augen.

Zurück zu Kristian. „Lern eine andere Sprache, geh ins Ausland, da wirst du Geld verdienen“, klingen die Worte seiner Großeltern noch heute nach. „Sobald man da ist, ist alles ganz anders “, erzählt er und lacht über seine Naivität, denn auch er war einer der vielen Bulgaren, die das Land für eine bessere Zukunft verließen.

Im Jahr 2003 waren es etwa 3.000, die es Kristian gleichtaten und ihrer Heimat den Rücken kehrten, 2015 zehnmal so viele – sie verließen Bulgarien nach Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich oder ins Vereinigte Königreich. Mittlerweile leben über eine Millionen Bulgaren im Ausland. Sie sind gegangen, um den mickrigen Löhnen, der hohen Arbeitslosigkeit und der Korruption in ihrer Heimat zu entkommen, andere zog der Wunsch nach einer besseren Ausbildung ins Ausland. Im Jahr 2003, als Kristian für sein Studium nach Deutschland kam, lebten laut Eurostat bereits 42.000 Bulgaren im Land, knapp 700 davon in Mannheim. Als er sieben Jahre später wieder nach Bulgarien zurückkehrte, hatte sich die Anzahl deutschlandweit um etwa 24.000 erhöht, in Mannheim sogar vervierfacht, das geht aus Daten der Stadt hervor. Bulgaren in Deutschland zählen zu den größten Gemeinden der bulgarischen Diaspora. Hier stellen sie auch die zweitgrößte Hochschulgemeinde – gleich hinter der der Chinesen.

Die Neckarwiesen, der Jungwein, die leeren Fußgängerzonen am Sonntagnachmittag – Kristian kann sich noch gut an Mannheim erinnern und an die vielen anderen Bulgaren, die er dort kennenlernte. „Es gibt die einen, die nichts mit anderen Bulgaren zu tun haben wollen und versuchen, in der deutschen Kultur aufzugehen und die anderen, die für eine bessere Ausbildung kommen.“ Die erste Gruppe sei geblieben, hat Arbeit gefunden und eine Familie gegründet, die zweite sei nach Bulgarien zurückgekehrt.

Seine Familie, seine Freundin, das Essen, mit dem er aufgewachsen ist – es gibt viele Gründe, warum Kristian lieber hier als im Ausland lebt. Er glaubt, in Bulgarien etwas verändern zu können. „Ich möchte das Leben der Menschen verbessern, auch wenn es nur das meiner eigenen Familie ist.“ Zum Beispiel, indem er dazu beiträgt, dass Menschen aus dem Ausland sein Land besser kennenlernen. Free Tours Sofia, die Idee hatte er sich in Städten wie Prag und Budapest abgeschaut. Morgens ist er oft müde zur Arbeit ins Büro gegangen, weil abends noch ein Pub Crawl anstand, also Barbesuche mit Touristen, die ihn gebucht hatten. „Die Menschen lernen langsam, dass sie auf sich selbst angewiesen sind, wenn es darum geht, glücklich zu werden“, sagt Kristian und nimmt sich dabei selbst nicht aus. Damals im Kommunismus habe der Staat diese Aufgabe übernommen.

Vor drei Jahren, als das Geschäft schlecht lief, hätte Kristian fast aufgegeben. In dieser Zeit gingen zehntausende Bulgaren monatelang gegen die korrupte politische Klasse auf die Straßen. Die neu gewonnene Arbeitnehmerfreizügigkeit führte dazu, dass noch mehr Menschen das Land verließen. Doch dann kam Ryanair. Die Billigfluglinie weitete ihr Netz auf Sofia aus. „Das hat uns gerettet, die Teilnehmerzahl für meine Stadttouren hat sich verdreifacht.“ Seitdem kommen neben Deutschen vor allem Griechen, Briten, Russen, Polen und Tschechen ins Land, um sich für wenig Geld zu erholen. Mittlerweile ist der Tourismus zu einer wichtigen Einnahmequelle für das Land geworden. Im vergangenen Jahr haben sich die Tourismusübernachtungen laut Tourismusministerin Nikolina Angelkova beinahe verfünffacht. Neben den Touristen, so Kristian, kämen aber auch immer mehr Bulgaren ins Land, die es einst verlassen haben. Zurecht. „Wir haben hier mittlerweile ein wirklich gutes Leben, einen guten Lebensstandard.“ Nicht nur Kristians Free Walking Tours verbuchen heute bessere Zahlen, auch Bulgariens Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren positiv entwickelt. Laut Weltbank ist der Konsum gestiegen, was vor allem auf höhere Einkommen, geringere Arbeitslosigkeit und Kreditwachstum zurückzuführen sei. Auch die Nachfrage nach bulgarischen Waren innerhalb der EU nimmt zu, dazu kommen mehr Auslandsinvestitionen und eine Liberalisierung des Marktes. Doch die Besserungen können nicht über anhaltende oder neu entstehende Probleme hinwegtäuschen: Bulgarien bleibt das ärmste Land der EU, die Jugendarbeitslosigkeit ist weiterhin hoch, ländliche Regionen veröden und die Einkommensungleichheit zählt zu den höchsten innerhalb der EU.

Auch Rali war guter Dinge, als sie vor vier Monaten ihre Arbeit in einer Sofioter Bank begann. Doch dann kam es anders. Sie fühlte sich im Team nicht willkommen. „Du musst engagiert sein, wenn du Erfolg haben willst“, ist sie überzeugt. „Aber auf manche wirkt das arrogant.“ Wenig später erfuhr sie, dass ihr Vertrag nicht verlängert wurde. Typisch Bulgarien, findet Rali. „Alles passiert hinter verschlossenen Türen, anstatt, dass man Probleme offen anspricht.“ Sie vermisst eine Unternehmenskultur, wie sie sie aus Dubai kennt: eine Kultur des Scheiterns, flache Hierarchien, Transparenz und Offenheit für Veränderungen.

Die Klimaanlage bläst kalte Luft in die Wohnung. Das, was Rali ihre Oase nennt, ist ein Wohnkomplex, der von einem Zaun umgrenzt und von einem Wachmann kontrolliert wird. Freitags, wenn sich die Bewohner zum gemeinsamen Barbecue treffen, sehen sie von hier aus die Sonne hinter dem Hausberg Vitosha untergehen. Die meisten von ihnen haben einige Jahre im Ausland gelebt. Der Manager von Turkish Airlines zum Beispiel, der Rali vor kurzem ein günstiges Flugticket nach Dubai organisiert hat. Es sind ambitionierte Menschen, die keine Angst vor Veränderung haben. Nur wegen ihnen hält sie es hier aus. Ihnen im Weg steht eine Mauer des Widerstandes. Damit meint Rali die Menschen im Land, die sich dem Neuen verweigern würden und von denen sie sich immer weiter entfernt hat. Um ihr Glück nicht von ihnen abhängig zu machen, fliegt Rali in zwei Wochen zurück nach Dubai. Drei Monate, so lange wird sie bleiben, um zurück in Bulgarien finanziell unabhängig zu sein und ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Für’s erste wird also auch sie bleiben.

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Inhalt erstellt: 06.11.2017, zuletzt geändert: 12.02.2019

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