12.07.2022 – So verbreitete das Domradio am 11. Juli ein Live-Interview mit Pfarrer Schwartz

Domradio-Titel: "Dumme Äußerungen"

Tief bewegt zeigt sich der Renovabis-Hauptgeschäftsführer Thomas Schwartz von einer Reise in die Ukraine und kritisiert scharf den offenen Brief deutscher Prominenter, den Krieg mit Verhandlungen statt Waffenlieferungen zu beenden.

DOMRADIO.DE: Sie berichten in Ihrem Ukaine- Blog von Begegnungen mit Menschen in Lwiw, Irpin und Kiew. Welche Begegnung hat Sie besonders berührt?

Prof. Thomas Schwartz (Hauptgeschäftsführer des Osteuropa-Hilfswerks "Renovabis"): Ich habe unglaublich viele sehr bewegende Begegnungen gehabt, von denen ich in den nächsten Wochen sicherlich auch noch viel zu zehren habe. Aber eine Begegnung wird mir lange in Erinnerung bleiben. Eine Frau, nennen wir sie mal Helena aus Irpin - auch eine dieser Städte, die von der russischen Militärmacht ganz stark zerstört worden sind.

Helena hat mich in ihr völlig zerstörtes Haus gebracht. Als Caritas-Helferin arbeitet sie trotzdem von morgens bis abends bei der Hilfe für Menschen in Not. Als ich sie dann fragte: Wie schaffst du das? Wie machst du das - ein zerstörtes Haus haben und trotzdem so viel menschliches Engagement zeigen? Da hat sie mir gesagt, in der Bibel stünde, Geben sei seliger als Nehmen. Nachdem man ihr alles genommen hätte, ihr ganzes Heim, alle Erinnerungen, hätte sie nur noch Kraft zum Geben. Und das wollte sie dann auch wenigstens tun. Da habe ich wirklich Gänsehaut bekommen, das ging mir unter die Haut. An diese Begegnung werde ich mich noch lange erinnern.

DOMRADIO.DE: Sie selbst sind Pfarrer und Seelsorger in einer Gemeinde gewesen. Wollen Sie in solchen Momenten auch trösten? Kann man überhaupt trösten?

Schwartz: Was ich gemacht habe, war nichts anderes, als was jeder normal fühlende Mensch machen würde. Ich habe die Frau erstmal in die Arme genommen. Am Schluss habe ich mich mehr getröstet gefühlt, als ich glaubte trösten zu können. Denn sie bleibt in ihrer Misere. Das Haus ist immer noch eine Ruine und ich kehre nach Deutschland zurück in eine relative Sicherheit, die zwar von Inflation gefährdet ist und von der Angst, ob das Gas weniger wird. Aber es geht uns ja trotzdem noch sehr gut.

DOMRADIO.DE: Sie sind nicht nur mit Menschen in Kontakt gekommen, die den Krieg erlebt haben, sondern haben selbst sozusagen ein Stückchen Krieg miterlebt. Sie mussten Schutz in einem Luftschutzkeller suchen. Wie war das?

Schwartz: Es war eine sehr, sehr eigenartige Erfahrung, morgens um zehn vor drei. Man hat eine Alarm-App auf seinem Handy, aber diese brauchte ich eigentlich nicht, weil in der ganzen Stadt Sirenen zu heulen begannen und man, fast einem Zombie gleich, schnell seine Sachen zusammengesucht hat. Was muss ich mitnehmen? Daraufhin hat man sich in den Luftschutzkeller begeben, der in meinem Hotel in der tiefsten Ebene der Tiefgarage gewesen ist. Nach einer Stunde war es vorbei. Am nächsten Tag war wieder um zehn nach drei Luftalarm und da war man das schon fast gewohnt. Aber natürlich ist man danach immer gerädert. Es ist wie eine nächtliche Folter, wie ein Terror, der die Menschen auch nachts noch verfolgt, die tagsüber genug an diesem Krieg zu knabbern haben. Das war für mich eine sehr eindrückliche Erfahrung. Was mich allerdings sehr erstaunt hat, ist, mit wie viel - zumindest vorgeschobener - Gelassenheit die Menschen in Kiew mit dieser täglichen Realität umgegangen sind.

DOMRADIO.DE: Das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis hilft seit langem in der Ukraine, vor allem im kirchlich-sozialen Bereich. Haben diese Erlebnisse Sie zum Nachdenken gebracht? Helfen Sie richtig, wie Sie es tun, oder müssten die Hilfen angepasst werden?

Schwartz: Wir haben seit dem 24. Februar bereits gesagt, dass wir humanitär helfen wollen, wo Not am Mann ist: in der Finanzierung von Luftschutzkellern und Flüchtlingseinrichtungen zum Beispiel, aber auch in der Unterstützung der Priester, die vor Ort bei ihren Gemeinden geblieben sind und im Moment keine Einnahmen haben, weil sie kein Kirchensteuersystem haben wie das bei uns der Fall ist. Sie sind abhängig von dem, was die Menschen ihnen geben und die Menschen können im Moment nichts geben. Wir haben also ganz viel humanitäre Hilfe geleistet. Das werden wir auch weiterhin tun.

Aber - das ist mir in vielen Gesprächen, auch mit Vertretern der Kirche und mit Vertretern der Menschen vor Ort deutlich geworden - sie erwarten von uns, dass wir auch weiterhin unsere Aufbauarbeit, die wir seit über 20 Jahren in diesem Land unterstützen, weiter machen. Denn sie sagen: "Das ist für uns ein Zeugnis, dass ihr an unsere Zukunft glaubt, dass ihr uns nicht verloren gebt. Helft uns, dass wir dort, wo wir können, auch weiter Arbeit finden, dass wir weiter bauen können, dass wir an Studentenwohnheimen, Pfarrzentren, sozialen Einrichtungen weiter Aufbauarbeit leisten können." Das werden wir auch in Zukunft tun.

DOMRADIO.DE: Kürzlich gab es einen offenen Brief, in dem zahlreiche deutsche Promis, u.a. Richard David Precht und Ranga Yogeshwar, die Bundesregierung bzw. westliche Staaten dazu aufforderten, den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Westliche Waffenlieferungen würden den Krieg und das Leid unnötig verlängern. Wie sehen Sie das?

Schwartz: Wer dort gewesen ist, der wird solche dummen Äußerungen nicht mehr machen. Die Menschen wollen dort die Heimat ihrer Kinder sichern. Sie wollen, dass die Kinder ihrer Kinder in der Ukraine als freie Menschen leben können und nicht in einer Situation der Unterdrückung, der Angst vor einem Terrorregime leben müssen, was in den besetzten Gebieten leider nun entsteht. Es gibt nicht nur ein Prinzip des gerechten Krieges - über das mag man vielleicht noch streiten -, es gibt auch ein Prinzip der gerechten Verteidigung. Und wenn es ein Recht zur Verteidigung gibt, dann hat es die Ukraine sicherlich auch in dieser Situation zu verwirklichen.

Es gibt auch ein Recht, um Hilfe zu bitten. Ich bin kein Vertreter derer, die sagen: Schickt alle Waffen, die da möglich sind. Aber ich bin ein Vertreter der Position, die sagt, wenn die ukrainischen Menschen ihre Freiheit verteidigen wollen, wenn sie sagen, wir lassen uns nicht zu Opfern machen, sondern wir wollen unsere Heimat, unser Land, unsere Demokratie verteidigen und gegebenenfalls auch besetzte Gebiete zurückerobern, dann stehe ich mich nicht an, Ihnen dieses Recht abzusprechen, auch nicht mit Waffenlieferungen. Gleichwohl ist das nie das letzte und einzige Moment. Wir müssen uns immer klar machen, dass ein Frieden letztlich nur durch Verhandlungen erreicht werden wird. Aber die Frage ist, in welcher Position und aus welcher Position werden Verhandlungen dann aufgenommen - aus einer Position der Besiegten? Oder aus einer Position einer gewissen Stärke? Da gilt das, was früher auch schon mal ein gallischer Eroberer über Rom gesagt hat: Vae victis - wehe den Besiegten.

Das Interview führte Heike Sicconi.

Inhalt erstellt: 12.07.2022, zuletzt geändert: 26.07.2022

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