Zbigniew Nosowski, polnischer Journalist und Chefredakteur der Zeitschrift „Więź"
Zbigniew Nosowski, polnischer Journalist und Chefredakteur der Zeitschrift „Więź"
Quelle: Zeitschrift „Więź"
01.09.2020 – Belarus

„Das belarussische Volk darf sich nicht im Stich gelassen fühlen“

Die Entwicklungen in Belarus beschäftigen auch die Partner des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis. Das direkte Nachbarland Polen verfolgt die Entwicklungen mit großer Empathie, aber auch mit Sorge. Der polnische Journalist Zbigniew Nosowski schildert für Renovabis seine Einschätzung der aktuellen Lage.

Zbigniew Nosowski ist polnischer Journalist, Publizist und katholischer Aktivist. Er ist Chefredakteur der Monatszeitschrift „Więź". Für Renovabis schildert er seine Einschätzung der aktuellen Lage in Belarus und beschreibt die Haltung der katholischen Kirche in Polen.

Die Fragen stellte Markus Ingenlath.

Wie wird die Situation in Belarus in Polen gesehen? Wie äußert sich die katholischen Kirche in Polen?

Die Polen haben spontan Sympathie für das Ringen der Weißrussen um echte Souveränität. Viele Gruppen innerhalb der polnischen Gesellschaft - selbst mit unterschiedlichem ideologischen Hintergrund - sehen zahlreiche Vergleiche zwischen der gegenwärtigen Situation in Belarus und der Entstehung der sozialen Bewegung "Solidarność" in Polen im Jahr 1980. Die Proteste der belarussischen Zivilgesellschaft werden von den Polen einhellig als Kampf für Unabhängigkeit und wirkliche Souveränität angesichts einer autoritären Diktatur angesehen.

Die polnische Bischofskonferenz hat bei ihrem Treffen vor einigen Tagen jedoch nichts über Belarus gesagt. Es gab nur einzelne öffentliche Kommentare einiger führender polnischer römisch-katholischer Bischöfe, die ihre Unterstützung für die Menschen in Belarus zum Ausdruck brachten, aber keiner von ihnen spielte in der polnischen öffentlichen Debatte eine wichtige Rolle. Das liegt vor allem daran, dass die katholische Kirche in Polen eine tiefe Krise der moralischen Glaubwürdigkeit durchmacht und die öffentliche Meinung den Äußerungen der Bischöfe viel weniger Aufmerksamkeit schenkt als noch vor einigen Jahren.

Was sind Ihre Empfehlungen an die Kirche in Belarus? Was erwarten Sie vom polnischen Episkopat?

Meiner Meinung nach spielen die Kirchenführer in Belarus eine sehr positive Rolle in diesem Prozess. Sie scheinen den Menschen sehr nahe zu sein, und das ist in diesem schwierigen Moment ihr richtiger Platz. Es ist wichtig, dass es ihnen gelungen ist, die Angst vor einer "Politisierung" zu überwinden. Auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, ist für die Kirche keine politische, sondern eine moralische Haltung.

Was die polnische Bischofskonferenz anbelangt, so würde ich in diesem Fall wenigstens die Einhaltung von Mindeststandards erwarten: Kontakt zur belarussischen Bischofskonferenz und Unterstützung zumindest mit Worten für die Bürger von Belarus. Einige andere Initiativen wären ebenfalls nützlich, wie der Austausch von Pfarreien, aber in der gegenwärtigen Situation ist das eher ein naiver Traum.

Was sind Ihre Wünsche an die polnische Regierung und an die Europäische Union?

Die polnische Regierung hat ihre Chance verspielt, ein Vorkämpfer der belarussischen Bestrebungen zu werden. Diese Rolle wurde von Litauen sehr gut übernommen. Viele Jahre lang war es Litauen, das offiziell die Entwicklung der belarussischen Zivilgesellschaft unterstützte, indem es Dissidenten Unterschlupf gewährte und unabhängigen Organisationen die Möglichkeit einer legalen Tätigkeit bot. Auch in Polen gibt es solche Initiativen, aber häufiger werden sie eher von unten, an der Basis, organisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist die stabile, seit über 15 Jahren andauernde Zusammenarbeit des Warschauer KIK (Klub der katholischen Intellektuellen) mit einem unabhängigen Gymnasium in Minsk (dem einzigen Gymnasium mit Belarussisch als Unterrichtssprache).

Aus verständlichen historischen Gründen verstehen die Länder und Bürger West-, Süd- und Nordeuropas die Probleme von Belarus (und Russland!) nicht so gut wie die Länder und Bürger Mittel- und Osteuropas. Daher wird eine allgemeine Politik der Europäischen Union gegenüber den Ereignissen in Belarus höchstwahrscheinlich vorsichtig bleiben. Aber das belarussische Volk darf sich nicht im Stich gelassen fühlen! Sie sollten eine Art europäische Solidarität erfahren! Sie sollten in ihrem Kampf für den sozialen Dialog unterstützt und nicht als Quelle der Konfrontation gesehen werden.

Deshalb sollten die EU-Mitgliedstaaten aus unserer Region von anderen Ländern viel aufmerksamer angehört werden. Und hier spielen solche Organisationen wie "Renovabis" eine entscheidende Rolle! Nachdem "Renovabis" eine direkte Zusammenarbeit mit den kirchlichen Gruppen in Belarus erlebt hat, kann die Solidaritätsaktion als Anwalt dieser mutigen Nation dienen, die von anderen europäischen Völkern so sehr missachtet wird.

Aktuelle Beiträge zu Belarus


18.12.2023 · Belarus

Plätzchenbacken in Gomel

Was für eine Freude im Kinderdorf Gomel in Belarus: Die Kinder und Jugendlichen durften gemeinsam mit ihren Betreuerinnen und Betreuern Weihnachtsplätzchen backen. Die Bilder, die aus Gomel bei Renovabis eintrafen, lassen das Herz aufgehen...

22.05.2023 · Aus der Projektarbeit

„Ein großer Moment der Freude“

Feierliche Einweihung der Pfarrkirche des Heiligen Franz von Assisi in Minsk: Durch das Engagement des Kapuzinerordens und die Unterstützung von Renovabis ist ein Ort des Glaubens in einem jungen Stadtteil entstanden, der die pastorale und soziale Arbeit der Kapuziner in Belarus stärkt.

09.12.2021 · Polnisch-belarussische Grenze

Katholische Laien und Renovabis fordern humanitäre Hilfe für Geflüchtete

Der Hauptgeschäftsführer des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis, Professor Thomas Schwartz, ruft angesichts der noch immer ungelösten Situation an der polnisch-belarussischen Grenze gemeinsam mit dem ZdK dazu auf, keine Politik auf Kosten von Menschen zu machen.

09.11.2021 · Flüchtlinge

Dramatische Lage an der belarussisch-polnischen Grenze

Tausende Flüchtlinge sind auf dem Weg zur oder bereits an der polnisch-belarussischen Grenze. Seit Tagen harren sie dort bei mittlerweile winterlichen Temperaturen aus. Lesen Sie dazu den Appell von Renovabis-Hauptgeschäftsführer Thomas Schwartz und eine Reportage von Jan Opielka.

10.09.2021 · Projektarbeit

Gemeinsam lernen und arbeiten - Eröffnung des Therapiezentrums in Gomel

Die Eröffnung des Therapiezentrums im Kinderdorf Gomel in Belarus ist ein Meilenstein für junge Menschen mit Behinderung: Das Zentrum richtet sich nun auch an Kinder und Erwachsene aus der Region, die bei ihren Angehörigen leben und bislang keinen Zugang zu Bildung und Beschäftigung haben.

26.04.2021 · 35 Jahre Tschernobyl

Eine moderne Ikone: „Christus tröstet die Kinder von Tschernobyl“

Ikonen sind Bilder aus längst vergangenen Zeiten? Diese weit verbreitete Auffassung widerlegt die moderne Ikone von Prof. Wolfgang Fleckenstein. Geschrieben ursprünglich von Angela Heuser, nach dem Reaktorunglück in der Ukraine 1986, wurde sie jetzt von ihm erweitert und abgewandelt.
Inhalt erstellt: 01.09.2020, zuletzt geändert: 19.11.2020

Unsere Newsletter