Pfarrer Dr. Christian Hartl mit Sr. Michaela und Kindern in einer Slumsiedlung in Albanien.
"Die Bilder dieser einfachen Hütten dort auf der Müllkippe und die Gesichter dieser armen Menschen, denen kein anderer Wohnraum bleibt, die sind mir sehr nachgegangen." - Hauptgeschäftsführer Pfarrer Dr. Christian Hartl nach einem Projektbesuch in Albanien.
Quelle: Renovabis
13.10.2017 – Interview

Verstehen, warum der Andere anders denkt

Pfarrer Dr. Christian Hartl blickt auf sein erstes Jahr als Hauptgeschäftsführer bei Renovabis zurück. Im Oktober 2016 trat er dieses Amt an. Was hat ihn seitdem beeindruckt und geprägt, und wie blickt er auf die Zukunft des Osteuropa-Hilfswerkes und die Situation der Menschen im Osten Europas?

Herr Pfarrer Hartl, was war Ihr erster Gedanke, als Sie erfahren haben, dass Sie neuer Geschäftsführer von Renovabis werden sollen?

Es war Erzbischof Schick, der bei mir angerufen und gefragt hat, ob ich bereit wäre zu Renovabis zu wechseln. Ich habe dann ganz spontan gefragt, welche Qualifikationen er denn bei mir erkennt, die mich befähigen würden, diese Aufgabe zu übernehmen. Seine Antwort war: „Sie sind Spiritual und es geht um die Pfingstaktion der katholischen Kirche in Deutschland, wenn da nicht Spiritualität gefragt ist, was dann?“ - Mich hat das überzeugt, weil er dann auch weiter ausgeführt hat, dass Papst Franziskus beim Ad-Limina Besuch kritisiert hat, dass die deutsche Kirche zwar sehr gut strukturiert und hochprofessionell sei, aber dass manchmal die geistliche Mitte nicht zum Tragen komme.

Mittlerweile blicken Sie auf ein Jahr Renovabis zurück. Welche Erfahrungen haben sie gemacht, was hat sie beeindruckt?

Am meisten beeindruckt mich das Vielerlei. Es sind so viele unterschiedliche Situationen, Begegnungen und Eindrücke, die ich da wahrgenommen habe: allein die 29 Partnerländer in ihrer großen Unterschiedlichkeit! Was für mich staunenswert ist, ist auch die großartige Vernetzung der weltkirchlichen Akteure, die gemeinsam unterwegs sind und die versuchen, Hilfestellung zu geben und den Dialog zu fördern. Und dann bin ich wirklich sehr beeindruckt von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, was ihre Professionalität und ihr Engagement angeht.

Sie waren in ihrem ersten Jahr auch im Osten Europas unterwegs. Welche Länder haben sie bereist?

Ich habe mir, schon bevor ich bei Renovabis gestartet bin, überlegt, wohin ich meine ersten Reise unternehmen sollte. Mir war es ein Anliegen, damit auch ein Zeichen zu setzen. Ich wollte dabei ausgehen von dem Wort von Papst Franziskus, das so oft zitiert wird, die Kirche solle an die Peripherien gehen. Ich hab dann überlegt: Müsste man diese Peripherien eher geografisch bestimmen oder ökonomisch oder politisch? Diese Frage habe ich dann auch hier bei Renovabis angesprochen. Aber die erste Reise war schon gesetzt: nach Polen, weil die Verbundenheit mit der polnischen Kirche sehr intensiv ist. Auch die zweite Reise, nach Ungarn, war schon vereinbart und auch diese war sehr hilfreich und inspirierend. Aber dann kamen eben die Dimensionen in den Blick, die mir schon im Voraus so viel bedeutet haben, und ich bin zunächst nach Albanien gefahren, dann nach Sibirien und zuletzt in die Ukraine.

Wie würden sie die Peripherien den Ländern zuordnen?

Ich deute das so: In Albanien ist natürlich die ökonomische Peripherie zu finden. Die Armut ist unbeschreiblich groß. In Sibirien kannte ich Bischof Joseph Werth bereits von früher. Hier war es mir wirklich wichtig, ihm und den Christinnen und Christen zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind, auch wenn sie weit von uns entfernt leben. In der Ukraine ist natürlich die politische Situation durch den Krieg hochproblematisch.

Gab es auf Ihren Auslandsreisen eine Begegnung, die Ihnen besonders zu Herzen ging?

Viele, viele Begegnungen sind mir zu Herzen gegangen. Begegnungen mit den Bischöfen, mit denen ich sehr offen und vertrauensvoll sprechen konnte. Begegnungen mit vielen Laien, die sich stark engagieren. Ich hab viel gespürt von Aufbruch und Ideenreichtum. Aber natürlich auch von sehr großen Herausforderungen. Und dann gab es auch einzelne Begebenheiten, die mich tief bewegt haben: Zum Beispiel der Besuch bei einer Gruppe von Roma in Albanien. Sie leben eigentlich auf einer Müllkippe. Die Bilder dieser einfachen Hütten dort auf der Müllkippe und die Gesichter dieser armen Menschen, denen kein anderer Wohnraum bleibt, die sind mir sehr nachgegangen.

Sie haben bereits die Kritik von Papst Franziskus bei den Ad-Limina-Gesprächen angesprochen. Kernpunkt war, dass die deutsche Kirche zwar hochprofessionell aufgestellt und gut strukturiert ist, dass aber mancherorts der Fokus auf die geistliche Mitte verloren gegangen ist. Wie schätzen Sie vor dem Hintergrund dieser Analyse das Hilfswerk Renovabis ein?

Renovabis ist zuallererst einmal geprägt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und da merke ich - vor allem im Laufe der Monate, in denen sich immer mehr Begegnungen und tiefere Gespräche ergeben haben –, dass bei vielen ein tiefes Glaubensfundament gegeben ist. Viele haben diese Aufgabe gewählt, weil ihnen an der Kirche liegt. Ganz praktisch feiern wir gemeinsam auch regelmäßig Eucharistie, wir beten und wir gestalten die Pfingstnovene gemeinsam. Aber auch beispielsweise bei den Mitarbeiterinnen, die am Spendentelefon sitzen, bemerke ich, dass sie viel Telefonseelsorge leisten. Sodann gibt es viele Begegnungen mit unseren Gästen, die nach Freising kommen, Bischöfen, Ordensleuten, verschiedenen Verantwortungsträgern aus den unterschiedlichen Ländern, und diese geben ja Zeugnis von ihrem Glauben - und das ist für uns inspirierend.

Nach der Erfahrung des ersten Dienstjahres bildet sich auch ein geschärfter Blick auf die Zukunft heraus. Wo sehen Sie die Herausforderungen für die Menschen, Länder und Kirchen im Osten Europas, und wie schätzen Sie im Hinblick darauf die Möglichkeiten der Solidaritätsaktion Renovabis ein?

Vieles hat sich gut entwickelt in den Ländern Osteuropas. Manches nicht so gut, wie man gehofft hatte. Nach der Wende herrschte vielerorts die Erwartung, es gäbe eine lineare Entwicklung nach oben. Jetzt muss man feststellen: In mancher Hinsicht war das zutreffend, aber in anderer Hinsicht gab und gibt es auch Brüche, Einbrüche und Rückschläge. Was eine große Herausforderung für unsere Partnerländer ist, das ist die politische und wirtschaftliche Stabilität. Damit steht und fällt vieles. In vielen Ländern ist es eine gewaltige Herausforderung, die Korruption zu bekämpfen. Auch die Folgen der Migration von Ost nach West sind dramatisch, deshalb haben wir dieses Jahr den Fokus besonders darauf gelegt. Zudem ist es vielerorts eine große Herausforderung, Kirche in der Diaspora zu sein. Für die Zukunft wird es weiterhin wichtig sein, den Dialog zu fördern und Begegnung zu ermöglichen. Aktuell nehmen wir wahr, dass wir uns in manchen Fragen nicht verstehen. Zum Beispiel, wenn es um Wertefragen geht oder ganz konkret um die Aufnahme von Flüchtlingen. Erst kürzlich hat unser Internationaler Renovabis-Kongress, der ganz auf den Dialog gesetzt hat, gezeigt, dass wir uns viel öfter zusammensetzen und einander zuhören sollten. Wir müssen versuchen, zu verstehen, warum der andere anders denkt als ich selbst.
Bei alledem bin ich aber auch zuversichtlich. Das betone ich immer wieder. Unser Name ist ja Renovabis, also übersetzt: „Du wirst erneuern“. Das bezieht sich auf den Heiligen Geist, und ich bin zuversichtlich, dass er uns inspiriert, uns führt und uns in allem Guten bestärkt.

Zur Person:

Christian Hartl, geb. 1964, wurde 1990 in Augsburg zum Priester geweiht und war von 1993 bis 1997 Sekretär des Augsburger Bischofs Viktor Josef Dammertz OSB. An der Seite des Missionsbenediktiners Dammertz konnte Hartl in diesen Jahren vielfältige weltkirchliche Erfahrungen sammeln. Neben verschiedenen Seelsorgsstellen als Kaplan und Pfarrer trug Hartl fast ein Jahrzehnt Verantwortung in der Priesterausbildung. Seit Oktober 2016 ist Pfarrer Dr. Christian Hartl Hauptgeschäftsführer von Renovabis, die offizielle Amtseinführung fand am 1. Dezember 2016 statt.

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Inhalt erstellt: 12.10.2017, zuletzt geändert: 12.02.2019

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