Familien warten vor der Waldorfschule am erster Schultag nach den Sommerferien in Rosia.
Quelle: Fabian Stamm, n-ost
Rumänien

Waldorf für Arme

Seit 20 Jahren gibt es im rumänischen Dorf Rosia eine Waldorfschule. Doch die Schülerschaft hat nichts mit der Klientel deutscher Pendants gemein. In Rosia ist es die Romacommunity, die ihre Kinder auf die Steiner-Schule schickt – aus Angst vor Diskriminierung an der Regelschule.

Dieser Beitrag stammt aus der gemeinsamen Artikelreihe „Lernen ist Leben“ von Renovabis und n-ost. Eine Reportage von Katja Neitemeier (Text) und Fabian Stamm (Fotos).

Ächzend quält sich der klapprige Dacia den Hügel hinauf, „na los, jetzt fahr endlich!“, schimpft Annette Wiecken, trommelt mit der einen Hand nervös auf dem Lenkrad, während die andere in den Gängen rührt. Draußen ruckeln die Täler Siebenbürgens vorbei. Wieckens Blick klebt an der Heckscheibe des schmutzigen grauen Kleinwagens vor ihr. Sie will jetzt endlich ins Dorf, endlich zu ihrer Schule.

Ende der 1990er Jahre kam sie mit ihrem Mann nach Rumänien. Er arbeite in Sibiu als Deutschlehrer, sie gründete einen Waldorfverein. Zunächst engagierte sie sich in der Stadt für ein alternatives Bildungsprojekt. Immer drastischer wurde ihr dabei die Diskriminierung der Roma-Kinder bewusst. Denn die gehen entweder gar nicht zur Schule oder werden dort systematisch ausgegrenzt. Wiecken wollte handeln. Die energische Frau mit dem weißen Pagenkopf startete in Rosia, einem Dorf 20 Kilometer von Sibiu entfernt, ein Alphabetisierungsprojekt für die Romacommunity. Ihr Ansatz: Mit lebenspraktischem Unterricht und einer intensiven Schülerbetreuung Wege aus der Armut zeigen, denn besonders in den Dörfern ist die Lage der Roma immer noch prekär.

Die Hauptstrasse im fast ausschliesslich von Roma bewohnten Unterdorf von Rosia.
Quelle: Fabian Stamm, n-ost
Musikunterricht hat einen hohen Stellenwert in der Waldorfpädagogik und begeistert Romakindern. Die Pädagogin Johnna Rebe unterrichtet Streichinstrumente.
Quelle: Fabian Stamm, n-ost

Mittlerweile ist aus dem Projekt eine Mittelschule mit angeschlossenem Kindergarten geworden, bald soll eine Berufsschule dazukommen. 85 Schülerinnen und Schüler gehen heute auf die Waldorfschule, dazu kommen noch 30 Kindergartenkinder. Vielen Schülern an Wieckens Schule fallen bereits einfachste Dinge schwer: Regelmäßig und pünktlich zur Schule zu kommen, stellt einige vor immense Herausforderungen. Mit praktischem Unterricht in Kunst, Musik oder im Schulgarten, soll die Waldorfpädagogik den Kindern helfen, einen Schulabschluss zu schaffen. Was aber am Ende den Unterschied macht: Wiecken und die Lehrerinnen nehmen sich Zeit für die Kinder.

Anders als in Deutschland, wo reformschulbegeisterte Eltern ihren Nachwuchs auf gut ausgestattete Steiner-Schulen schicken und bereitwillig Schulgeld zahlen, sind es in Rosia die ärmsten Familien, deren Kinder in der Waldorfschule unterrichtet werden. Zahlen müssen sie nichts. Das gelingt, weil der rumänische Staat einen Teil der Kosten trägt. Der Rest kommt von zwei Waldorfvereinen aus Deutschland und der Schweiz.

Zwei Schulformen auf einem Gelände: Die Schülerschaften trennen Welten

Das metallene Schultor quietscht und ruckelt. Auf dem Gelände stehen drei Flachbauten. Sie bilden einen kleinen Hof. In Rosia teilen sich Waldorfschule und staatliche Gemeindeschule dasselbe Areal. Dort, an der äußersten Ecke zwischen den Schulgebäuden, beginnt eine Barriere, die für viele Schüler der Waldorfschule unüberwindbar ist. Es ist die Grenze zwischen der Freiheit der rumänischen Mehrheitsgesellschaft, sich für eine Schulform zu entscheiden, und der Roma-Community, die die Kinder lieber auf die Steiner-Schule schickt, um den Ressentiments ihrer Nachbarn zu entgehen.

Natürlich gilt die freie Schulwahl auch in Rumänien, aber während Kinder der rumänischen Mehrheitsgesellschaft bruchlos in den Schulalltag der Gemeindeschule gleiten, ist der Schulbesuch für viele Roma längst keine Selbstverständlichkeit. Zähe Überzeugungsarbeit und langwieriges Engagement sind notwendig, Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder überhaupt einzuschulen. Das kostet Zeit, Kraft und die Bereitschaft, immer wieder Rückschläge hinzunehmen.

Grossmutter und Tochter im Unterdorf von Rosia. Paulas Eltern sind ohne sie weitergezogen und sie lebt seither bei ihrer Grossmutter. Diese Jahr hat sie ihren ersten Schultag.
Quelle: Fabian Stamm, n-ost
Mutter, Grossmutter und Sohn im Unterdorf in Rosia.
Quelle: Fabian Stamm, n-ost

In Rosia bleibt diese Arbeit an Annette Wiecken und ihrem Team hängen. Sie müssen jeden Tag für Ihre Schülerschaft kämpfen. Zuerst, um sie überhaupt in die Klassen zu bekommen und dann, um sie bis zum Abschluss zu bringen. Dafür mussten Wiecken und ihre Mitstreiter auch ihre eigenen Erwartungen an die Realitäten im Dorf anpassen. Konkret heißt das: Die Kinder in der Waldorfschule bekommen keinen Eurythmieunterricht, weil sie keine Lehrkraft finden. Sie lernen also nicht die typische Bewegungslehre nach Rudolf Steiner, die Selbstbewusstsein und Konzentrationsfähigkeit von Waldorfschülern verbessern soll. Stattdessen versuchen die zehn Lehrerinnen, diesen Mangel auf andere Weise auszugleichen; ihre Beziehung zu den Kindern und ihren Familien ist sehr eng. Geht Annette Wiecken über die Dorfstraße, kommt sie oft nur wenige Meter weit. Immer wieder wird sie angesprochen, bleibt stehen, grüßt, unterhält sich mit Kindern und Erwachsenen.

Der erste Schultag: Hemd und Krawatte und T-Shirts ohne Löcher

Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien; Einschulung: Reges Stimmengewirr und Gewusel auf dem Schulhof, Kinderlachen mischt sich mit dem Gemurmel der Erwachsenen, die in kleinen Grüppchen auf dem Schulhof stehen. Abwechselnd nuscheln der Schuldirektor und der örtliche Priester Unverständliches in ein Mikrofon – den ABC-Schützen ist das egal: Nur hin und wieder drehen sie die Köpfe in Richtung des Klapptisches, der als Rednerpult herhalten muss. Sie haben schließlich Wichtigeres zu tun an diesem, ihrem Tag. Feierlich herausgeputzt sind sie alle: Die einen stehen in Hemd und Krawatte neben den Eltern, immer darauf bedacht, ihre neuen Kleidungstücke bloß nicht zu beschmutzen. Die anderen sind stolz, endlich das neue T-Shirt, noch vollkommen unversehrt und ohne Löcher, tragen zu können und zum ersten Mal die neuen Turnschuhe auszuführen.

„Für viele sind wir die Dummenschule“

Auf dem großen hellen Flur herrscht reger Trubel, Kinder suchen ihre Klassenzimmer. Zwischen den Räumen wabert der Duft süßlichen Parfüms. Es sind vor allem Roma-Kinder, die durch die Schule tollen. „Für viele sind wir die Dummenschule“, sagt Annette Wiecken. Und das liegt nicht am Lehrplan, sondern an der Schülerschaft. Bei vielen Eltern aus dem Oberdorf sitzen die Vorurteile gegenüber Roma nach wie vor tief. Kaum einer kann sich vorstellen, dass die Schüler von Wiecken mindestens so clever sind wie die eigenen Kinder. Deshalb schicken sie die lieber auf die Regelschule. Sie glauben, dass ihr Nachwuchs dort besser auf die Zukunft vorbereitet wird – obwohl die Abschlussprüfungen in Rumänien schulübergreifend standardisiert sind. Annette Wiecken ist sich sicher, die Gründe liegen ganz woanders: „Sobald es den Menschen etwas besser geht, schicken sie ihre Kinder auf die Gemeindeschule.“, bedauert sie.

Waldorfschule in Rumänien: Nichts zu tun mit deutschem Bildungsbürgerwellnesstum

Mit den Sprösslingen des deutschen Bildungsbürgerwellnesstums hat das Klientel der Waldorfschule in Rosia nichts zu tun. Der 1.500 Seelen Ort ist geteilt in Ober- und Unterdorf, der Wohnort scheidet – nicht nur dem Namen nach – in reich und arm, Mehrheitsgesellschaft und Roma. In Rosia ist die Realität zynisch. Das wird klar, sobald man hinter dem Schulgelände links abbiegt. Die Straße ins Unterdorf führt steil bergab in eine andere Realität der Siedlung. Die Fassaden bröckeln, viele Dächer sind provisorisch geflickt. Je tiefer man in die Siedlung vordringt, desto mehr Menschen sind auf der unbefestigten Straße unterwegs; meistens Kinder, die miteinander Fangen spielen. Fast wirkt es idyllisch, zumindest so lange bis sich wieder abbruchreife Häuser ins Bild schieben.

In Rumänien leben zwei Millionen Roma. Etwa 120.000 davon arbeiten in Deutschland. Viele von ihnen wollen auf diese Weise den armseligen Lebensbedingungen ihrer Heimat entkommen. Die Konsequenz: Die Eltern verdingen sich im Ausland als Putzkräfte oder auf Baustellen, um den Lebensunterhalt für die Kinder zu verdienen, die daheim von den Großeltern großgezogen werden. So ist es auch bei Familie Ursu.

Familien warten vor der Waldorfschule am erster Schultag nach den Sommerferien in Rosia.
Quelle: Fabian Stamm, n-ost

Aufwachsen bei Oma: Mutter in Deutschland, Vater abgehauen

Nach vorsichtigem Klopfen öffnet sich ein Metalltor. Hier leben Anna Ursu, ihre Enkelin Paula und deren Geschwister. Paula ist gerade erst eingeschult worden – auf der Waldorfschule. „Ich glaube, dass Paula dort weniger ausgegrenzt wird“, sagt Anna Ursu. Sie sitzt vor ihrem Haus, den Eintopf, der neben ihr auf dem Herd blubbert, immer im Blick. Anna Ursu ist erst 51 Jahre alt, trotzdem durchschneiden tiefe Furchen ihr Gesicht. Das kleine Mädchen schmiegt sich an sie, während ihre Oma erzählt. Paulas Herkunft ist unverkennbar: Ihre Haut ist dunkel und ihr Haar schwarz. In Rumänien ist auf den ersten Blick klar, dass sie eine Roma ist und das ist hier keine Beobachtung, sondern ein Urteil. Paulas Eltern sind getrennt, ihre Mutter arbeitet im Ausland. Ihr Vater hat die Familie bereits kurz nach Paulas Geburt verlassen. Wo er jetzt ist, weiß niemand. Deswegen muss sie mit ihren Geschwistern bei der Großmutter aufwachsen – sie alle leben in einem einzigen Raum. Die Luft ist muffig, riecht abgestanden. An der Wand; eine karge Küchenzeile. Von der Decke baumelt ein ockerfarbener Fliegenfänger. Die Füße versinken in einem der vielen hübschen, flauschigen Teppiche, die auf dem Boden ausgebreitet sind.

Für ihren ersten Schultag hat Paula neue Kleidung bekommen. Stolz zieht sie ihren neuen rosa Trainingsanzug über. Besonders freut sie sich über die neuen weißen Turnschuhe. Immer wieder stampft sie energisch auf den Boden. Erst nach einigen Versuchen fängt die Schuhsohle endlich an, bunt zu blinken. Paulas Augen strahlen. Die Schuhe haben 40 Lei gekostet. Das sind ungefähr 8 Euro und damit knapp die Hälfte des Kindergeldes, das Anna Ursu für Paula vom Staat bekommt

Der Schulbesuch kann nur ein erster Schritt in eine schwierige Zukunft sein

Paulas erster Schultag ist mittlerweile vorbei. In den nächsten acht Jahren wird sie Lesen und Rechnen lernen. Im eigenen Schulgarten wird sie Gemüse anbauen. Wenn alles glattgeht, schafft sie den Mittelschulabschluss. Für viele Schülerinnen endet die Schulkarriere nämlich schon mit 16, 17 Jahren – mit der ersten Schwangerschaft. Einige junge Frauen schaffen es, eine Ausbildung zur Hauswirtschaftlerin im nahgelegenen Sibiu abzuschließen. Die Jungs arbeiten, sobald es irgendwie geht, auf dem Bau. Weil sie dort mehr verdienen. In Rumänien liegt die Jugendarbeitslosigkeit aktuell bei 16,2 Prozent. Daran kann auch die Waldorfschule in Rosia nichts ändern. Annette Wiecken will trotzdem weitermachen: „Man muss den Kindern immer wieder eine Chance geben.“

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Inhalt erstellt: 02.03.2020, zuletzt geändert: 19.08.2020

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