Der Beitrag stammt aus einer gemeinsamen Artikelreihe von Renovabis und n-ost. Eine Reportage von Daniela Prugger (Text) und Alexander Checkmenev (Fotos).
Wie alt sind Sie? „39.“ - Sind Sie obdachlos? „Ja.“ - Seit wann? „Seit mehr als fünf Jahren.“ Wortkarg, beinahe einsilbig antwortet Tanya auf die Fragen von Iryna Drobot. Hat sich Ihre Situation seit dem Lockdown verschlimmert? „Ja.“ Gab es in der vergangenen Woche Tage, an denen Sie hungrig zu Bett gegangen sind? „Ja.“ Wie viele? „Drei.“ Wie oft hatten Sie in der vergangenen Woche die Gelegenheit sich zu waschen? „Zweimal.“ Wissen Sie, wohin Sie gehen müssen, wenn Sie Symptome des Coronavirus haben? „Nein.“
Jeden Samstag und Sonntag kommt Tanya zum Maidan, zum Unabhängigkeitsplatz. Dort verteilen die Mitarbeiter der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio Lebensmittel: 120 Mal in Plastiktüten verpackte Sandwiches und Wasserflaschen. Die Anzahl der Menschen, die in Kiew ohne Wohnung leben, wird offiziell auf 5.000 beziffert. Doch Hilfsorganisationen schätzen sie auf mehr als 20.000. Menschen mit familiären und finanziellen Problemen, Suchtkranke, alte Männer und Waisenkinder sowie Personen ohne gültige Dokumente werden in der Ukraine besonders häufig obdachlos.
Erstmals zum Betteln gezwungen
Durch die Befragungen, die die Freiwilligen am Maidan vornehmen, will Sant’Egidio herausfinden, wie sich die Lebensumstände dieser Menschen seit der Pandemie verändert haben. „Sie standen plötzlich ohne Essen und ohne ihre schlechtbezahlten Jobs da. Es gab keine öffentlichen Toiletten mehr, der öffentliche Verkehr wurde eingestellt. Sie waren verzweifelt und es gab viele, die aufgrund der Pandemie zum ersten Mal gebettelt haben“, sagt Iryna Drobot, Koordinatorin bei Sant’Egidio.
Tanyas Gesicht hat etwas Mädchenhaftes an sich. Sie trägt einen Daunenmantel, eine Mütze mit einer kanadischen Flagge und an jedem Finger einen Ring. Schmuck, den sie von Freunden geschenkt bekommen hat. Nachdem sie das Essen entgegengenommen und den Fragenkatalog beantwortet hat, wird die zurückhaltende Frau gesprächiger. In den 1990er-Jahren, die von einer schweren wirtschaftlichen Krise geprägt waren, habe auch ihr Leben eine Wendung genommen, erzählt sie. „Mein Vater wurde ermordet, als ich zwölf war. Meine Mutter konnte die Rechnungen für uns Kinder nicht mehr bezahlen. Sie hat die Einzimmerwohnung verkauft und wir sind in ein kleines Dorf außerhalb von Kiew gezogen. Meine Mutter hatte Schulden.“ Ein Schicksalsschlag folgte auf den nächsten. Die Mutter trank, wurde krank und starb, als Tanya 17 Jahre alt war. Seither schlägt sie sich durch und zog nach Kiew, wo sie berufliche Alternativen zur Feldarbeit vermutete. Manchmal arbeitet Tanya als Straßenkehrerin oder recycelt Altmetall, immer schwarz.
Schlaflager in einer Ruine in Toplage
Seit vier Monaten schläft sie im Stadtzentrum, nur wenige Gehminuten vom Goldenen Tor entfernt, einer der bekanntesten Touristenattraktionen der Hauptstadt. In einer Gegend mit hippen Kaffeehäusern, schick designten Restaurants, Kunstgalerien und Modegeschäften verbringt sie gemeinsam mit fünf anderen Personen die Nächte in einem leerstehenden Stadthaus mit gelber Fassade. Eine Ruine in Toplage, aus deren Fenstern Büsche wachsen. Tagsüber geht Tanya zu den Orten, an denen Lebensmittel verteilt werden: Kirchen, der Bahnhof, der Maidan. Oder sie sucht nach Resten, die herumliegen. Wie verdienen Sie derzeit Geld? „Ich gehe betteln.“
In den Wochen während der strengen Corona-Beschränkungen schien die Kiewer Innenstadt fast wie ausgestorben. Dort, wo der Verkehr normalerweise so dicht ist, dass die Bürgersteige als Parkplätze herhalten müssen, fuhren kaum mehr Autos. Viele Bewohner blieben aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu Hause. „An diesen Tagen sah man in Kiew nur die Armen und Obdachlosen auf der Straße“, berichtet Iryna Drobot.
Von der Politik misstrauisch beäugt
Während es in Ländern wie Deutschland staatliche Hilfe für Obdachlose gibt, springen in der Ukraine freiwillige Helfer ein. Es gibt in Kiew nur ein einziges städtisches Obdachlosenheim, mit 150 Betten. Private oder kirchliche Organisationen, wie Sant’Egidio, füllen die Lücke, die der Staat und die Familien hinterlassen. Sie teilen Lebensmittel und Kleidung aus, suchen das persönliche Gespräch und machen damit genau das, was Ruslan Svitly, Direktor der Abteilung für Sozialpolitik in Kiew, kritisiert. Anfang Mai warnte er in einem Interview: „Wer Essen an Obdachlose verteilt, sorgt dafür, dass es mehr von ihnen gibt.“
Trotzdem steht Iryna Drobot jeden Sonntag mit Schutzmaske, Handschuhen und Desinfektionsmittel auf dem Maidan. Sie kennt manche Obdachlose seit Jahren, auch Tanya: „Wir versuchen uns mit den Menschen, die zu den Essensausgaben kommen, anzufreunden. Wir möchten eine persönliche Beziehung zu ihnen aufbauen.“
Dass persönliche Beziehungen ein Schlüssel sein können, verraten Tanyas Überlegungen zu der Frage, warum sie obdachlos geworden ist: „Ich habe keine Erklärung dafür. Ich habe keine Zeit und keinen Raum, um darüber nachzudenken. Aber mit Hilfe meiner Freunde und meiner christlichen Familie werde ich einen Weg nach vorne finden.“