Bela Soltesz
Bela Soltesz
Quelle: László Mudra, n-ost
29.08.2017 – n-ost Reportage

Sie werden nicht wiederkommen

Warum sollen junge Menschen in Ungarn bleiben, wenn sie keine beruflichen Perspektiven in ihrer Heimat sehen? Viele finden darauf keine befriedigende Antwort und gehen. Gleichzeitig sperrt sich Ungarn gegen Einwanderung. Eine Innenansicht von dem Budapester Soziologen Bela Soltesz.

n-ost-Themenreihe: „Gehen oder bleiben?“ - in Kooperation mit Renovabis

Eine Innenansicht von Bela Soltesz, Budapest

Budapest (n-ost) – Istvan, ein Freund von mir aus Studienzeiten, ist Mitte 30 und Manager. Er ging vor sechs Jahren ins Ausland. Sein Arbeitgeber, ein multinationaler Konzern, versetzte ihn nach Brüssel, wo er nun mit seiner Frau lebt, die ebenfalls aus Ungarn stammt. Ich besuche die beiden in ihrer geräumigen Wohnung. Als wir Muscheln kochen und lokales Bier trinken, berichteten sie von dem Studium an einer renommierten belgischen Universität, das sie neben ihrer Arbeit absolvieren. Es ist offensichtlich, dass jeder Tag in Belgien die beiden weiterbringt – sowohl in finanzieller als auch in beruflicher Hinsicht.

Dennoch sprechen beide ständig davon, eines Tages nach Budapest zurückzuziehen. Sie vermissen die Familie, die Freunde und das Nachtleben. Ein typisches Auswandererschicksal, könnte man meinen: Alles hat sich im anderen Land bestens für sie entwickelt, trotzdem können sie nicht aufhören, an eine Rückkehr zu denken. So geht es vielen. Und sie werden dennoch im Ausland bleiben.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verließen Millionen junger Menschen aus den Staaten des früheren Ostblocks ihre Heimat. Ungarn war davon zunächst nicht so stark betroffen. Die Emigration hat erst ab 2010 massiv zugenommen und ist seitdem ein heißes, hochpolitisches Thema. Nach derzeitigen Schätzungen leben rund eine halbe Million Ungarn im Ausland.

„Komm heim, junger Ungar“

Dass junge Menschen in immer größerer Zahl das Land verlassen, erklärt die Opposition normalerweise so: Die Regierung sei so schlecht, dass die eigene Jugend keinen Lebensunterhalt mehr verdienen könne. Die Regierung wiederum kontert: Es handle sich lediglich um ein kurzzeitiges Phänomen, die Jungen wollten die Welt sehen, ein bisschen Geld verdienen, aber sie würden zurückkommen. Manchmal sprechen Regierungsvertreter sogar von Verrat, schließlich habe der Staat viel Geld in die Ausbildung und Gesundheit dieser Bürger investiert – und nun gingen sie fort.

An diesen Phrasen mangelt es nicht in der ungarischen Politik, aber sie ziehen kaum Konsequenzen nach sich. Es gab zwar einige Bemühungen, junge Menschen vom Weggehen abzuhalten und Ausgewanderte zurückzulocken. Beides jedoch: vergeblich. Es gab die Initiative „Komm heim, junger Ungar“, doch dieser kam nicht heim. Dann wurden Studierende dazu verpflichtet, Verträge zu unterschreiben, in denen sie versprechen, so viele Jahre nicht auszuwandern, wie ihr Studium gedauert hat. Das galt für jene, die kostenlos studieren durften oder nur moderate Gebühren zahlen mussten. Doch auch das zeigte keine große Wirkung.

Warum sollten die Jungen auch bleiben, wenn die Bezahlung in einigen Berufszweigen in Westeuropa fünf bis acht Mal höher ist? Junge Ärzte, IT-Spezialisten, Tischler oder Krankenpfleger finden darauf keine befriedigende Antwort und gehen.

Der neoklassischen ökonomischen Theorie zufolge werde die Abwanderung dazu führen, dass die Löhne in Ungarn steigen. In einigen Sparten, etwa im Maschinenbau, gibt es tatsächlich bereits einen Arbeitskräftemangel. Doch das Lohnniveau scheint sich nicht zu erhöhen. Entweder ist also die Theorie falsch und die Lebensstandards in Ungarn werden sich niemals ausreichend verbessern. Oder die Löhne werden nur langsam steigen, was sich über die Spanne eines Menschenlebens ziehen könnte.

Mein Freund Istvan und ich treffen uns das nächste Mal nicht in Belgien, sondern in Budapest zwischen Weihnachten und Silvester. Das ist jene Zeit des Jahres, die in Ungarn in den vergangenen Jahren zur „Woche der Heimkehr“ geworden ist. Die meisten jener, die im Ausland studieren oder arbeiten, besuchen in einer Art sozialem Marathon ihre Verwandten und Freunde.

Istvan holt mich an der Verkehrskreuzung Oktogon im Zentrum Budapests ab. Er sitzt am Steuer seines Sportwagens mit belgischem Kennzeichen. Er erzählt, dass er den ganzen Nachmittag lang durch die Stadt gefahren sei, um Viertel zu besichtigen, in denen er und seine Frau nach ihrer Rückkehr eine Wohnung kaufen könnten. Wann, frage ich. Er gibt keine Antwort.

Diejenigen, die zurückkommen, haben mit vielen Herausforderungen zu kämpfen – wie Boroka, eine Soziologin und Marketing-Expertin Anfang 30. Sie verbrachte einige Jahre in London, wo sie Fundraising für eine Wohltätigkeitsorganisation betrieb. Ihr Freund arbeitete als Programmierer für eine britisch-ungarische IT-Firma. Unmittelbar nach dem Brexit-Referendum entschied sich die Unternehmensführung, den Firmensitz nach Budapest zu verlegen. Boroka musste ihren Job aufgeben und einen neuen in Budapest suchen. Letztendlich fand sie eine Stelle in der öffentlichen Verwaltung. Dort wurden ihre Fähigkeiten von den neuen Kollegen sehr geschätzt. Auf ihr Gehalt wirkte sich das leider nicht aus. Bei der betroffenen Behörde hatte es seit 2008 keine Lohnerhöhungen gegeben. Boroka war bewusst, dass sich die Rückkehr schlecht auf ihr Einkommen auswirken könnte. Doch dass es so schlimm werden würde, hatte sie nicht geahnt: Nach einem ordentlichen britischen Gehalt verdient sie nun in einem Vollzeitjob 550 Euro netto im Monat.

Lange Zeit waren es vor allem ethnische Ungarn aus benachbarten Staaten, die zum Studieren und Arbeiten nach Ungarn zogen. Die Slowakei, die Ukraine, Rumänien und Serbien haben jeweils eine große ungarische Minderheit, meist in Regionen nahe der Grenze. Ethnische „Ungarn jenseits der Grenze“, wie sie im Land genannt werden, kamen in großer Zahl seit den frühen 1990er Jahren bis in die Nuller Jahre. Sie sorgten mit dafür, dass es in Ungarn eine Nettozuwanderung gab – es kamen mehr Menschen als gingen. Seit 2008 jedoch hat sich das Verhältnis umgekehrt. Sogar die „Ungarn jenseits der Grenze“ überqueren nicht mehr die Grenze nach Ungarn, sondern lieber jene nach Deutschland oder Großbritannien.

Über Einwanderung ließe sich der Bevölkerungsverlust ausgleichen. Stattdessen brachte die Orban-Regierung eine groß angelegte Anti-Migrations-Kampagne ins Rollen, die sich in erster Linie gegen Flüchtlinge richtet. In der Folge wurden die Asylregeln systematisch verschärft und die Angst vor Flüchtlingen geschürt – und das, obwohl sich nur rund 5.000 anerkannte Flüchtlinge im Land befinden. Willkommen geheißen wurden hingegen wohlhabende Bürger aus Drittstaaten. Die Regierung bewilligte Tausenden von ihnen Aufenthaltsgenehmigungen, wenn sie 300.000 Euro hinterlegten. In der Regel zogen diese Menschen jedoch nicht nach Ungarn, sondern nutzten ihren Aufenthaltstitel, um sich im Schengen-Raum frei zu bewegen. Im April 2017 wurde diese Art der Visa-Vergabe gestoppt.

Wie konfus sich Ungarn in Fragen der Einwanderung verhält, wird auch an der Verwendung des Begriffs „Migration“ deutlich. Im politischen und öffentlichen Diskurs steht Migration für das Eintreffen von Asylwerbern aus Drittstaaten, vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten – obwohl diese Bewegung durch diverse Maßnahmen praktisch gestoppt wurde. Auf der anderen Seite werden EU-Bürger, ethnisch ungarische Einwanderer aus Nachbarstaaten, Inhaber von Aufenthaltstiteln gegen die Hinterlegung von Geld und insbesondere junge Ungarn, die in andere Staaten übersiedeln, im öffentlichen Diskurs normalerweise nicht als Migranten bezeichnet.

Wir haben es mit einer paradoxen Situation zu tun: Die Migrationsdebatte dreht sich stets um Asylwerber und nicht um die oben genannten Gruppen, die zahlenmäßig jedoch viel bedeutender sind.

Gerade junge Auswanderer sehen Ungarn gerne nostalgisch als eine Art Dorf aus ihrer Kindheit, in dem das Gras grün und das Essen köstlich war. Doch es gab dort keine beruflichen Perspektiven, daher musste jeder, der aufsteigen wollte, fortgehen. Was ihnen nun bleibt ist Heimweh, verbunden mit dem ewigen Traum, eines Tages in die geliebte Heimat zurückkehren zu können. Dieser Tag wird womöglich nie kommen – außer, die Dinge wenden sich in Ungarn zum Besseren.

Wann könnte es dazu kommen? Die Arbeitslosigkeit ist bereits vergleichsweise niedrig. Die Löhne in einigen Berufssparten steigen. Doch die Wirtschaft ist nicht der einzige Faktor. Fälle wie der legislative Angriff auf die international renommierte Central European University (CEU) in Budapest sind ein sehr schlechtes Signal an die ungarische Jugend: Seit Monaten ist die Universität von einer Schließung bedroht, nachdem die Orban-Regierung das Hochschulgesetz geändert hat. Um echte Veränderung zu erreichen, sollten die Kanäle des sozialen Fortschritts verbreitert werden. Dazu gehört maßgeblich die Bildung. So lange diese beschnitten wird, sendet das ein schlechtes Signal an Ungarns Jugend. Es ist dann nur logisch, dass der Weg vorwärts viele ins Ausland führt.

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Inhalt erstellt: 29.08.2017, zuletzt geändert: 10.02.2021

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