Quelle: Wikimedia Commons, Dontworry, CC BY-SA 3.0
Es wird so häufig darauf verwiesen, dass man den Hinweis schon gar nicht mehr bewusst wahrnimmt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – so lautet der Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes. Schon deutlich weniger wird der zweite Satz des Artikels zitiert: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dabei wird erst dadurch aus dem theoretischen Postulat eine praktische Herausforderung.
Eine philosophisch-theologische Einordnung von Thomas Eggensperger OP
Theologisch begründet wird die Menschenwürde mit der so genannten „Gottesebenbildlichkeit“. Diese Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott wird beispielsweise im Buch Genesis erwähnt: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen
als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ (Gen 1,26f) Die Gottesebenbildlichkeit ist sowohl als Funktion als auch als Aufgabe zu verstehen: Der Mensch repräsentiert als Statue die Gottheit, so wie eine Statue des Herrschers dessen Macht und Präsenz darstellt. Das gilt einschränkungslos und unabhängig von geschlechtlicher Identität.
Die funktionale Umschreibung besteht im Verweis darauf, dass Gott dem Menschen den Umgang mit der Schöpfung quasi abdelegiert hat. Der Mensch soll dabei die Natur, die Pflanzen- und Tierwelt nicht ausbeuten oder gar zerstören, sondern er soll mit der Schöpfung verantwortlich und behutsam umgehen. Im Neuen Testament kommt Jesus Christus ins Spiel und auch ihm wird die Gottesebenbildlichkeit zugesprochen. „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ (Phil 2,6 f)
Der Mensch wird verstanden als ein Bild Gottes, d. h. er existiert wie Gott selbst. Diese Zuschreibung hat eine dramatische Konsequenz: Die Menschlichkeit des Menschen bleibt jeglicher Verfügung von außen entzogen – vielmehr besitzt er unbedingte Menschenwürde.
Verletzbarkeit
Eine solche Deutung von Menschenwürde ist nicht einfach nur eine Beschreibung der Souveränität von Menschen. Das zeigt sich in dem Augenblick, in dem die Würde eines Menschen angegriffen, verletzt wird. In der Vulnerabilität des Menschen zeichnet sich die Würde, aber eben auch die Schwäche des Einzelnen aus. So kann jegliche Missachtungserfahrung eine moralische Verletzung bedeuten, weil sie wesentliche Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit des Menschen zerstört, wie der Philosoph Axel Honneth betont. Die Möglichkeit verletzter Anerkennung kann sogar dazu führen, dass sie prinzipiell gar nicht möglich ist, d. h. Anerkennung misslingt, so die Einschätzung der Philosophin Judith Butler. Das ist eine grundsätzliche Herausforderung und verweist auf die hohe Güte von menschlicher Würde. Über die Würde des Menschen gilt es nicht nur zu reflektieren, sondern auch das Reflektierte in die Praxis umzusetzen. In dieser Praxis der Menschenwürde findet sich schließlich eine – nicht nur, aber auch – spezifisch christliche Sichtweise.
Menschenwürde praktisch
So zeigen sich in der christlichen Tradition besonders im karitativen Bereich praktische Umsetzungen, die der Schutzwürdigkeit des verletzlichen Menschen geschuldet sind. Zu nennen sind nicht nur Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen unterschiedlichster Art, sondern auch unmittelbar die Fürsorge für Arme und Vernachlässigte und mittelbar der Bildungsbereich – vom Kindergarten über die Schule bis hin zu wissenschaftlichen Einrichtungen. In dieser Praxis gibt es allerdings nicht nur Licht-, sondern auch Schattenseiten. Die Missbrauchsskandale der Kirchen, aber auch die beispielsweise in Kanada jahrzehntelang geübte Praxis, indigene Kinder ihrer Eltern und ihrer kulturellen Identität zu berauben, um sie in christlichen Internaten und Schulen darüber hinaus auch noch seelisch und körperlich zu demütigen, zeugen von kirchlichem Versagen in der Anerkennung des Verletzbaren.
Es sind drei Verben, so die Sozialethikern Marianne Heimbach-Steins, die den Begriff der Menschenwürde begleiten: achten, schützen, anerkennen, die aber auch auf drei Anti-Begriffe verweisen: missachten, verletzen, verkennen bzw. negieren.
Achtung zeugt von Respekt vor einer abstrakten Würde und dem menschlichen Träger dieser Würde. Jedem Menschen wird im moralischen Sinn als gleichwertigem Wesen Achtung entgegengebracht. Dies gilt auch hinsichtlich der Selbstachtung der eigenen Person. Deshalb macht das biblische Liebesgebot die Selbstliebe zum Maßstab der Nächstenliebe („Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“, Mk 12, 31).
Schützen meint ein aktives Engagement von Einzelnen oder Institutionen, welches die Menschenwürde zum Maß nimmt und die Integrität der personalen Existenz zum Ziel hat. Hier gilt es, Strömungen und Meinungen entgegenzuwirken, die die Menschenwürde bestimmter Personen und Personengruppen herabsetzen oder bloßstellen. Anerkennen schließlich meint die Hinwendung zum Gegenüber in einer Weise, dass ihm die eigene Würde (wieder) bewusst wird. Die Anerkenntnis
kann zu einem heiklen Moment werden, wenn das Gegenüber nicht nur anerkannt, sondern in der Anerkennung verkannt wird. Die Anerkennung des Gegenübers kann sehr schnell zu dessen Verkennung werden, wenn sie paternalistisch oder instrumentalisierend daherkommt.
Ideal und Praxis-Ziel
Auf die Würde des Menschen zu achten, sie zu beschreiben und auf sie einzugehen, hat eine lange Tradition. Bereits die Texte des Alten Testaments verweisen auf sie, aber auch das Neue Testament öffnet die Möglichkeit zur Interpretation. In der christlichen, aber auch humanistischen Geistesgeschichte ist Menschenwürde regelmäßig reflektiert worden – nicht zuletzt auch angesichts ihrer Verletzbarkeit und Nicht-Anerkennung. Die verschiedenen christlichen Gemeinschaften, aber auch der säkulare Staat, sind gut beraten, die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und anzuerkennen, sei es im konkreten Alltag oder im konkreten Einzelfall eines Gegenübers.
Literatur:
- Marianne Heimbach-Steins, Die Praxis der Menschenwürde – eine christliche Perspektive, in: Markus Vogt / Ivo Frankenreiter (Hrsg.), Mensch werden. Christlicher Humanismus zwischen Philosophie und Theologie, Basel 2024, Seiten 99-110.
- Martin W. Ramb/Holger Zaborowski (Hrsg.) Freiheit und Menschenwürde, 2. Band Koordinaten Europas, Göttingen 2024