Quelle: wikimedia commons/Renovabis
Von Thomas Schumann
„Erinnere dich an gestern, handle heute“ – mit diesen Worten eröffnet Munira Subašić, Präsidentin der Organisation „Mütter von Srebrenica“, den 30. Gedenktag des Genozids von Srebrenica. Die über 80-jährige Frau, deren Sohn Nermin und Ehemann Hilmo Subašić 1995 ermordet wurden, spricht mit fester Stimme und bedecktem Haar vor internationalen Würdenträgern im Genocide-Memorial-Center von Potočari. Ihre Botschaft ist klar: Die Erinnerung darf nicht lähmen – sie muss zum Handeln führen.
„Unsere Väter, Brüder, Söhne wurden getötet, nicht weil sie etwas getan hatten, sondern weil sie bosnische Muslime waren“, sagt Subašić. Sie ruft dazu auf, sich aktiv gegen Hass, Intoleranz und nationalistische Ideologien zu stellen. Gewalt dürfe nie das letzte Wort haben, die Würde jedes Menschen müsse im Zentrum stehen. Ihre Worte treffen einen Nerv – nicht nur wegen ihrer persönlichen Geschichte, sondern auch wegen ihrer eindringlichen Klarheit.
Tief berührender Redebeitrag
Munira Subašić spricht im Angesicht von Hoheiten, Staatsoberhäuptern und Vertreterinnen und Vertretern von Staaten der ganzen Weltgemeinschaft, darunter vielen Vertretern islamischer Staaten. Mit ihrer Aura bewegt die alte Dame die Herzen aller bei der bewegenden Gedenkfeier im Genocide-Memorial-Center des ostbosnischen Dorfes Potočari. In der alten Fabrikhalle einer Batterien-Produktion waren zuletzt Blauhelm-Soldaten als UN-Schutztruppe stationiert, dann in die Defensive gedrängt und zur Tatenlosigkeit verurteilt, bevor ausgerechnet dort die Erschießungen und Gräueltaten gegen Zivilisten begannen.
Der tief berührende Redebeitrag von Munira Subašić wird mit langanhaltendem Applaus bedacht. Sie spreche „ohne jeden Groll und Hass“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis, Thomas Schwartz: „Sie hat einen eindringlichen Appell gegen jeden Nationalismus, gegen jeden Fanatismus und gegen jede Menschenfeindlichkeit vorgetragen.“ Das sei ein Unterschied zu den Gedenkreden, die alle unter der Überschrift „Nie wieder!“ zusammengefasst werden könnten, weniger aber unter dem Appell „Jetzt gemeinsam aktiv werden!“
Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, räumt ein Versagen der westlichen Kräfte während des Massakers ein: „Ich danke Ihnen für die Einladung an diejenigen von uns, die 1995 nicht gegen Mladić und seine Komplizen vorgegangen sind“, sagt er. König Charles von England lässt durch die Herzogin von Edinburgh, Sophie Helen, seine Botschaft verlesen und den Bürgern von Bosnien und Herzegowina seinen Respekt erweisen: „Drei Jahrzehnte später ist es wichtiger denn je, all derer zu gedenken, die gelitten haben, und unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um allen Bürgern Bosnien-Herzegowinas eine friedliche und stabile Zukunft zu sichern. Eine gemeinsame Zukunft kann es nicht geben, wenn die Ereignisse der Vergangenheit geleugnet oder vergessen werden. Nur wer aus der Vergangenheit lernt, kann den Verlust des anderen teilen und gemeinsam in die Zukunft blicken.“ Bundespräsident Gauck fokussiert seinen Beitrag auf „Nie wieder Srebrenica!“
Keinerlei Platz für Genozid-Leugnung
Ähnlich äußern sich die zugeschaltete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der persönlich anwesende EU-Ratspräsident António Costa, der betont: „Es gibt keinerlei Platz in Europa oder anderswo für Genozid-Leugnung, Geschichts-Revisionismus oder die Verherrlichung der Täter.“ Die Präsidentin des für Ex-Jugoslawien zuständigen UN-Gerichts, Graciela Gatti Santana, erklärt: „Der beste Weg, Genozid-Leugnung zu bekämpfen, besteht darin, an den Urteilen des Haager Tribunals festzuhalten, etwa indem wir den Fokus auf Bildung legen.“ Anteilnahme und Solidarität bekundeten unter den angereisten Regierungschefs auch diejenigen der jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien, Slowenien, Kosovo und Montenegro: „Es ist unsere Pflicht zu erinnern, aufzustehen und niemals wegzuschauen, wenn Menschenrechte in Frage gestellt und die Würde anderer untergraben wird“, sagt die aus Slowenien stammende EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos.
Sloweniens Präsidentin Natasa Pirc Musar hebt hervor, dass „Srebrenica nicht nur eine schmerzhafte Erinnerung ist; es ist eine moralische Verantwortung. Frieden, Toleranz und Menschenwürde sind nicht selbstverständlich: Sie müssen jeden Tag aufgebaut und geschützt werden.“ Im Gespräch mit Renovabis-Leiter Thomas Schwartz erinnert sich der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti bei der Gedenkfeier von Potočari an ähnliche menschenverachtende Vorkommnisse im Sinne von Völkermord in seinem Land Ende der 1990-er Jahre. Kurti setzt auf sensible Erinnerungs-, Dialog- und Versöhnungsarbeit, soweit dies die tief verletzten Gefühle der Angehörigen der Opfer erlauben, äußert er sich sinngemäß.
Erwartungsgemäß nicht erschienen in Potočari ist indes Serbiens Staatschef Aleksandar Vučić. Er nannte die Gräuel von 1995 auf der Online-Plattform X ein „schreckliches Verbrechen“ und erklärte: „Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen die Zukunft ändern. Im Namen der Bürger Serbiens möchte ich den Familien der bosniakischen Opfer erneut mein Beileid aussprechen und bin überzeugt, dass sich ein ähnliches Verbrechen nie wieder ereignen wird.“ Unisono das „Nie wieder!“ betonen der per Video zugespielte NATO-Generalsekretär Mark Rutte, die Staatschefs Italiens und Frankreichs, Sergio Matarella und Emmanuel Macron, sowie der österreichische Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Der per Video übertragene Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, erinnert an die Solidarität seines Landes gegenüber den Bosnienflüchtlingen. Nur der vor Ort leidenschaftlich, eindringlich und laut sprechende türkische Ex-Parlamentspräsidenten Mustafa Şentop setzt einen ganz anderen Akzent: Der AKP-Spitzenpolitiker nutzt seinen Auftritt auf internationalem Parkett, um israelfeindliche Parolen zu verbreiten.
Der Genozid von Srebrenica sei nicht allein eine Schuld der serbischen Armee, sondern auch ein Versagen der Völkergemeinschaft, meint Thomas Schwartz am Rande der Gedenkfeierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Massakers. Er vertritt als einziger Repräsentant eines deutschen kirchlichen Hilfswerks die katholische Osteuropa-Solidaritätsaktion Renovabis bei der Gedenkveranstaltung in Potočari. Die exklusive Einladung der bosnischen Regierung dazu versteht der Hilfswerks-Chef auch als Anerkennung des langjährigen Engagements von Renovabis im Westbalkan.
Die Schwierigkeit, den Begriff „Genozid“ anzuerkennen
Während sich auf bosniakischer Seite ein einhelliges Gedenken etabliert hat, tun sich viele Serben schwer mit der juristischen und moralischen Einstufung der Ereignisse als Völkermord. Dass in Srebrenica großes Unrecht geschehen ist und sich ein schweres Kriegsverbrechen ereignet hat, gilt in Serbien und auch in der Republika Srpska als Konsens. Den Angehörigen der Opfer wird dabei auch Beileid und Mitgefühl ausgesprochen. Es wird argumentiert, dass Frauen und Kinder nicht systematisch getötet wurden und dass es auch keine Selektionen gegeben habe; dies wird aber von internationalen Experten für juristisch nichtzutreffend abgewiesen und für durch anderslautende Beweise widerlegt.
Häufig verweisen serbisch-bosnische Stimmen zudem auf Verbrechen der bosniakischen Seite vor dem Fall Srebrenicas, etwa Übergriffe der Truppen des Kommandeurs Naser Orić im Umland von Srebrenica, etwa in Kravice, wo serbische Dörfer niedergebrannt und Zivilisten getötet wurden. Diese Verbrechen seien kaum geahndet und selten Teil des öffentlichen Diskurses, vor allem nicht im Westen, so der serbische Vorwurf. Ein großer Teil der politischen Vertreter Serbiens verurteilt das Massaker von Srebrenica als schweres oder „monströses Verbrechen“, wie es der serbische Präsident Aleksander Vučić einmal formulierte. Doch der Begriff „Genozid“ bleibt für viele inakzeptabel. 30 Jahre nach dem Völkermord bestimmen vielerorts nationalistische Narrative und tiefes Misstrauen den Diskurs.
Nicht bloß moralische Schuld, Erinnerungen, Menschlichkeit und die Würde der Ermordeten von 1995 stehen zur Debatte, sondern auch Folgen für das aktuelle Zusammenleben in den beiden Entitäten in dem fragilen Staatsgebilde von Bosnien und Herzegowina. Die Zentralregierung in Sarajevo strebt seit Jahren eine größere Machfülle an, um das oftmals bürokratisch blockierte Land regierbarer zu machen. Ein formelles Eingeständnis, eine Anerkennung des Genozids von Srebrenica, könnte zu neuen Versuchen führen, der Serbenrepublik ihre Legitimität abzusprechen, befürchtet man in Banja Luka in der Republika Srpska. Entschädigungsforderungen könnten zu den Konsequenzen gehören.