Familie auf den Treppenstufen ihres Hauses in Rumänien
Die Familien in den armen Roma-Siedlungen Rumäniens haben Angst vor dem Corona-Virus - noch mehr aber fürchten sie den Hunger.
Quelle: Petrut Calinescu , n-ost
Corona in Rumänien

Sie fürchten den Hunger mehr als das Virus

Gesundheitliche Risiken, wirtschaftliche Not und zunehmende Stigmatisierung: Die COVID-19-Pandemie trifft Rumäniens Roma hart. Ganz besonders leiden die Kinder: Denn ohne Computer oder zumindest ein Smartphone gibt es keinen Unterricht - und das besitzen die wenigsten in den kleinen Roma-Dörfern.

Eine Reportage von Marine Leduc und Valentina Nicolae (n-ost) aus ersten Monaten der Corona-Pandemie

Eine Frau mittleren Alters ist mit der Wäsche beschäftigt. Aus einem Koffer vor ihren Füßen holt sie ein paar T-Shirts und Hosen und legt sie in eine Plastikwanne. Das Haus, in dem sie wohnt, hat keine Türe, stattdessen ist der Eingang mit einem Pappkarton verdeckt. Ein Stück weiter oben schieben zwei Mädchen eine Schubkarre mit einer leeren Gasflasche die Straße entlang, ein Junge läuft hinter ihnen her und treibt sie lachend an: „Los, los, schneller!”

Örkő ist Heimat von rund 3000 Roma. Die Häuser verteilen sich über grasige Hügel, bunte Teppiche über den Zäunen setzen vor den heruntergekommenen Häusern fröhliche Farbtupfer. Das segregierte Viertel gehört zur Kreisstadt Sfântu Gheorghe, im mehrheitlich von ethnischen Ungarn bewohnten rumänischen Kreis Covasna. Als die Corona-Pandemie Europa erreichte, änderte sich das Leben auch in Örkő von einem Tag auf den anderen. Normalerweise verdienen viele Menschen aus dem Viertel ihr Geld jenseits der Grenzen, in Fleischfabriken oder als Erntehelfer. Doch im März sind innerhalb von nur einer Woche so gut wie alle zurückgekehrt, die im Ausland gearbeitet hatten. Das erzählt uns Dima Gyorgy (30), der Vizepräsident der lokalen Roma-Organisation Amenka.

Kampf ums nackte Überleben

Normalerweise unterstützt Amenka die Roma bei behördlichen Angelegenheiten, doch plötzlich stand die Organisation vor ganz anderen Aufgaben. „Die Menschen in Örkő fürchteten den Hunger mehr als das Virus”, erklärt Dima in einem Besprechungsraum der Kindertagesstätte, die die Caritas Alba Iulia in seinem Viertel betreibt. „Die Pakete, die die Behörden verteilten, waren für Menschen in Quarantäne bestimmt. Viele andere, die keine Pakete bekamen, kämpften ums nackte Überleben.” So arbeiteten in der Corona-Krise Amenka, die Caritas und zwei weitere lokale Organisationen erstmals zusammen, um die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hygieneprodukten sicherzustellen.

Eine andere Roma-Gemeinschaft, die von der Corona-Krise hart getroffen wurde, ist die in Zăbala, wo abgesondert vom Rest des Dorfes, oberhalb auf den Hügeln, rund 300 Roma leben. Abrupt enden am Rande des Hauptdorfs die geteerten Straßen, dann führt ein matschiger Pfad hinauf. Die Siedlung liegt auf einer Lichtung, ein alter Brunnen markiert ihren Beginn. In einem großen Baum klettern ein paar Kinder, an einen kleineren Baum ist ein Pferd angebunden. Es wiehert. Schnell sind wir umringt von Leuten aus dem Dorf. Kinder wie Erwachsene haben sofort Kinga Hubbes erkannt, die uns begleitet. Sie arbeitet bei der Caritas Alba Iulia und koordiniert dort die Projekte für die Roma-Minderheit im Kreis Covasna.

Junge Frau auf einer ungeteerten Straße in Zabala in Rumänien
Armut beherrscht das Leben in der Roma-Gemeinde in Zabala - die Corona-Krise drängt die Ärmsten der Armen noch mehr an den Rand der Gesellschaft.
Quelle: Petrut Calinescu , n-ost
Eine Familie auf den Treppen ihres Hauses in Zabala.
Gerade die Kinder sind die Leidtragenden der Pandemie - für ein Mindestmaß an Unterricht und Lernen bräuchten sie zumindest ein Smartphone. Doch das besitzen die wenigsten...
Quelle: Petrut Calinescu , n-ost

Schulden beim Dorfladen

Anders als in Örkő verdienen in Zăbala die wenigsten Roma ihr Geld im Ausland. Melinda, 34 Jahre alt und dreifache Mutter, berichtet, wie sie normalerweise über die Runden kommen. „Wir leben von den Pilzen, die wir sammeln, und indem wir den Leuten unten im Dorf in ihren Gärten oder im Haushalt helfen.“ Doch im Lockdown fragte plötzlich niemand mehr nach ihrer Arbeitskraft – und Melinda musste im Dorfladen anschreiben lassen. Sie sieht bekümmert aus und hält ihre Hände fest geschlossen, während sie uns ihr Leid klagt: „Nun müssen wir unsere Schulden natürlich bezahlen.“ Es sind ungefähr 1000 Lei, umgerechnet rund 200 Euro - für Melindas Familie fast ein Netto-Monatseinkommen.

Der Europarat schätzt, dass in Rumänien rund 1,85 Millionen Roma leben – die damit gut acht Prozent der Bevölkerung ausmachen. Rund 70 Prozent von ihnen sind laut einem Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2014 von Armut bedroht – für die Gesamtbevölkerung in Rumänien wird der Wert mit 25 Prozent beziffert. EU-Schlusslicht ist Rumänien bei der Schulabbrecherquote. Mehr als 15 Prozent aller Kinder verließen die Schule im Jahr 2019 ohne Abschluss. In ländlichen Gebieten (25 Prozent im Jahr 2018) und unter Roma-Kindern (77 Prozent im Jahr 2016) ist sie nochmal höher.

Eine Roma-Siedlung in Sfantu Gheorghe
Eine Roma-Siedlung in Sfantu Gheorghe
Quelle: Petrut Calinescu , n-ost
Eine Roma-Siedlung mit vielen, teils verfallenen Häusern
Beinahe jedes Haus der kleinen Siedlung müsste dringend renoviert werden.
Quelle: Petrut Calinescu , n-ost

Ohne Smartphone keine Schule

Nach einigen Wochen kompletten Unterrichtsausfalls verfügte die Regierung in Bukarest im April, dass die Schulen verpflichtend Online-Unterricht anbieten sollten. Den Kindern in Zăbala und Örkő brachte das nichts. Denn um daran teilnehmen zu können, bräuchten sie eine Internet-Verbindung, zumindest via Smartphone. Doch ein solches besitzen die wenigsten.

Lorenzo, ein Drittklässler aus Zăbala, erzählt, dass er seine Lehrerin seit März genau ein Mal gesehen hat. Da habe sie ihn und seine Mitschüler nach unten in die Dorfschule bestellt, um ihnen zu sagen, dass sie in die nächste Klasse vorrücken werden. Seine Oma, eine Frau mit wettergegerbtem Gesicht, bestätigt den Bericht des Jungen, indem sie nickend ihre Hände in die Hüften stemmt. „Vermisst Du die Schule?“, fragen wir. – „Igen.“ Der Junge mit dem Fußballer-Haarschnitt bejaht auf Ungarisch und lächelt traurig.

Emigration als Lebensmodell

Amenka-Vize Dima Gyorgy fürchtet, dass die Schulabbrecherquote unter den Roma in Folge der Pandemie nochmal steigen wird. In seinem Viertel Örkő gehen von rund 500 Kindern sowieso nur einige wenige zur Schule. „Wenn die Beschränkungen gelockert werden, werden noch mehr Menschen als zuvor eine Arbeit im Ausland suchen. Die Kinder werden entweder mitgehen, oder hierbleiben und alleine auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen.” András Márton, Leiter der Caritas Alba Iulia, teilt diese Befürchtungen und ergänzt: „Die ganze Situation in der EU ist paradox. Westeuropa braucht moderne, mobile Arbeitskräfte, doch die sozialen Probleme, die dies mit sich bringt, werden als nationale Probleme der Herkunftsländer abgetan. Wenn die EU die Arbeitnehmer-Freizügigkeit garantiert, dann sollten die Mitgliedstaaten auch für deren Folgen gemeinsam Verantwortung übernehmen.”

Kinga Hubbes arbeitet seit mittlerweile zehn Jahren für die Caritas. Sie erzählt, dass es schwierig sei, den Kindern ein anderes Lebensmodell aufzuzeigen. „Der Besuch einer Schule hat für diese Kinder nicht wirklich einen Wert. Wir sagen ihnen, dass es gut für sie wäre, wenn sie die Schule abschließen – aber sie wissen: Wenn sie ins Ausland gehen, verdienen sie dort mehr als hier. Es fehlt an Vorbildern. Sie kennen nur das des jungen Mannes, der im Ausland schnell Kohle gemacht hat.“ Doch Kinga bemerkt auch positive Entwicklungen: So bringen ihre Schützlinge von einst mittlerweile ihren eigenen Nachwuchs in die Kindertagesstätte in Örkő. „Das macht uns froh. Es bedeutet, dass sie uns ihre Kinder anvertrauen.”

Sündenbock in der Krise

Im Fernsehen und in den sozialen Medien wurden Roma nach Beginn der Pandemie vielfach als diejenigen dargestellt, die zur Verbreitung des Virus beitragen. Selbst aus lokalen Behörden waren entsprechende Äußerungen zu vernehmen. So sagte der Präfekt des Kreises Timiș – in einem Telefongespräch mit dem Leiter der Schulaufsichtsbehörde – dass ein Gymnasiast in Timișoara deshalb erkrankt sei, weil das Kind aus einer Roma-Familie komme. Und Ex-Präsident Traian Băsescu ließ Anfang Mai wissen, dass Rumäniens Gesellschaft den Lebensstil der Roma nicht akzeptieren solle.
Soziologe und Roma-Experte Gelu Duminică zeigt sich von solchen Äußerungen nicht überrascht. „In Krisenzeiten suchen die Menschen immer nach Südenböcken. Rassismus gegenüber der Roma-Minderheit ist ein altes Problem und in der aktuellen Periode wurden die Rassisten nochmal lauter”, schildert er seine Beobachtungen.

Agenția Împreună, eine NGO aus Bukarest, für die Gelu Duminică arbeitet, realisierte im Juni eine Umfrage über die Wahrnehmung der Roma-Minderheit. Demnach haben rund 70 Prozent der Menschen in Rumänien kein Vertrauen in Roma – wobei der Wert auch im Jahr 2018 so hoch war. Etwa die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass es in Rumänien zu viele Roma gibt. Auf die Frage, welche Gruppen für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind, wurde die Roma-Minderheit am dritthäufigsten genannt – nach der rumänischen Diaspora und Einwanderern.

„Für viele Roma bedeutete die Losung „Bleibt zu Hause” nichts anderes als „Sterbt an Hunger”, erklärt Gelu Duminică. „Wir wussten jedoch, dass, wenn diese Menschen nicht zu Hause bleiben würden, sie noch mehr zur Zielscheibe von Kritik werden würden, weil sie sich nicht an die Auflagen halten.“ So versorgte auch Agenția Împreună zusammen mit anderen NGOs besonders Bedürftige mit Lebensmittel-Paketen.

Im Kontrast zur Stigmatisierung der Roma stand das Spendenaufkommen, das die NGO in den ersten Wochen der Pandemie verzeichnen konnte, es war deutlich höher als üblich. „Innerhalb weniger Tage und Wochen kamen mehrere Tausend Euro zusammen, das ist wirklich bemerkenswert“, berichtet Gelu Duminică und sagt dann: „Für mich bringen diese Wochen beides zum Vorschein, die schlechtesten und die besten Seiten der Menschen.“

In Örkő und Zăbala wächst indes die Anspannung, sehnsüchtig warten die Menschen dort auf eine Rückkehr zur Normalität. „Habt Ihr irgendwas von den Grenzen gehört“, fragt uns während der Recherchen ein junger Mann Mitte Zwanzig, der schon mal in Deutschland gearbeitet hat. „Werden sie wieder geschlossen?“ Angesichts der steigenden Infektionszahlen und der Tatsache, dass immer mehr Länder Rumänien als Risikogebiet einstufen, wird er auf seine Fragen so schnell keine befriedigende Antwort erhalten.

Übersetzung: Sarah Portner (n-ost)

Dieser Text wurde vom internationalen Journalistennetzwerk n-ost produziert und vom Osteuropa-Hilfswerk Renovabis gefördert.

Inhalt erstellt: 19.08.2020, zuletzt geändert: 15.02.2021

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