Sie waren zu einer Zeit besonders starker russischer Angriffe in der Ukraine. Wie präsent ist der Krieg im Westen des Landes?
Jeder hat eine App für Luft-Alarm auf dem Handy. Als meine Reise anstand, mehrten sich die Luftangriffe auf die Ukraine. Es begann mit Kiew und breitete sich zunehmend auf den Westen aus. Jede Nacht heulten die Sirenen – besonders zwischen zwei und vier Uhr. Das heißt, schlaflose Nächte sind garantiert. Das zermürbt - und die Bevölkerung erlebt das jeden Tag.
Was macht diese Situation mit den Menschen?
Zum einen ist da die Angst und Anspannung der Familien, die Väter, Söhne, Ehemänner an der Front haben. Und dann sind da die Soldaten, die nach der Zeit an der Front oft nicht in ein normales Leben zurückfinden. Sie haben eine Extremsituation erlebt, das Land verteidigt. Jetzt sind sie verletzt, haben vielleicht eine Amputation, können nicht mehr kämpfen – aber auch ihren alten Job nicht mehr machen. Sie fühlen sich, als hätten sie ihren Sinn verloren und finden in ihren Familien keinen Halt, weil sie mit ihnen nicht über ihre Erfahrungen sprechen können. Das alles führt zu Depression und Verzweiflung. Auf beiden Seiten.
Gibt es Angebote zur Rehabilitation?
Es gibt seelsorgerische Angebote, aber auch psychologische Betreuung. Beides geht Hand in Hand. Doch der Bedarf an spezialisierten Psychologen steigt. Deshalb werden zunehmend Krankenhauskapläne krisenpsychologisch ausgebildet. Zur Reha gehören aber auch spezielle Behandlungen für die Verwundeten. Ich habe zum Beispiel eine Praxis besucht, die von Renovabis gefördert wird. Dort arbeitet ein Physiotherapeut, der 2014 selbst an der Front war. Er weiß ziemlich genau, was in den Patienten vorgeht. Und die öffnen sich ihm gegenüber und erzählen, was sie beschäftigt, was sie gesehen haben. Das bewirkt erstaunliche Erfolge. Männer, die die Finger nicht mehr bewegen konnten, sind nach zwei Wochen in der Lage, zu greifen. Andere lernen, nach einer Minenverletzung wieder aufzutreten. Es gibt viel zu tun. Aber es lohnt sich, wenn Menschen damit wieder zu sich und ihren Familien finden.