Eine kleine Delegation des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) hat zwei Tage lang Przemysl im äußersten Südosten Polens besucht.
Eine kleine Delegation des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) hat zwei Tage lang Przemysl im äußersten Südosten Polens besucht.
25.10.2022 – Polen

„Eine ganze Generation verloren“

Eine kleine Delegation des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und zwei Renovabis-Vertreter haben zwei Tage lang Przemysl im Südosten Polens, unweit der ukrainischen Grenze, besucht. Ziel war es, einen Überblick über die geleistete Hilfe vor Ort zu bekommen.

In der 64.000 Einwohner zählenden Stadt Przemysl (sprich „Pschemyschl“) kamen in den ersten Wochen der russischen Kriegseskalation täglich 16.000 Menschen aus der Ukraine an, bevor sie zu Zielen in ganz Europa weiterreisten. Der größte Ansturm liegt zwar schon etwas zurück, aber seit Russland am 10. Oktober und in den folgenden Tagen gezielt begann, zivile Infrastruktur zu zerstören und es täglich im ganzen Land Luftalarm gibt, steigt die Zahl der in Polen Schutzsuchenden wieder. Przemysl, das nur ca. 20 km von der ukrainischen Grenze entfernt ist, scheint eine Art Seismograf für die Europäische Union zu sein – hier merkt man ziemlich schnell, wann die Not wieder größer wird.

Kommunen als erste Anlaufstelle

Der Bürgermeister berichtet, dass zurzeit die Vorbereitungen für den Winter laufen. Es sind ca. 30 Organisationen und Unternehmen aus Polen und aus der internationalen Gemeinschaft beteiligt. Dreh- und Angelpunkt ist das ehemalige Firmengelände der Supermarkt-Kette „Tesco“, durch das seit Februar rund 1,5 Mio. Flüchtlinge geschleust wurden und das eins von sieben Verteilzentren in ganz Polen ist: Grundlage ist ein Vertrag zwischen der Stadt Przemysl und den Eigentürmern; der Bürgermeister beschreibt die Zusammenarbeit mit ihnen als „reibungslos“, kürzlich sei er mit bangen Gefühlen zu einer Besprechung gefahren, aber die Eigentümer des Firmengeländes hätten von sich aus eine Vertragsverlängerung über die Wintermonate hinweg angeboten. Die Geflüchteten, die sich im Durchschnitt 48 Stunden dort aufhalten, werden registriert, erhalten Nahrung, einen Schlafplatz und medizinische Versorgung. Sie werden mit gespendeten Nahrungsmitteln, Kleiderspenden, Hygieneartikeln u.v.m. versorgt. Besonders benötigt wird dort gerade Winterkleidung und haltbare Lebensmittel. Alle zwei Tage fährt ein Zug mit vier Kurswagen Richtung Prag und weiter nach Hannover, mit dem Flüchtlinge kostenlos mitfahren können – andere Weitertransportmöglichkeiten gibt es nach Angaben der Verantwortlichen im Zentrum zurzeit nicht.

Die Hilfsbereitschaft in Polen erscheint grenzenlos, viele Familien rückten zusammen, Pfarrgemeinden stellten ihre Räumlichkeiten zur Verfügung – die Delegation konnte u.a. die Räumlichkeiten der Dompfarrei in Augenschein nehmen, die erst vor zwei Wochen die letzten Bewohner verabschieden konnten, die eigene Räumlichkeiten gefunden hatten, und jetzt renovieren muss.
Die Hilfsbereitschaft in Polen erscheint grenzenlos, viele Familien rückten zusammen, Pfarrgemeinden stellten ihre Räumlichkeiten zur Verfügung – die Delegation konnte u.a. die Räumlichkeiten der Dompfarrei in Augenschein nehmen, die erst vor zwei Wochen die letzten Bewohner verabschieden konnten, die eigene Räumlichkeiten gefunden hatten, und jetzt renovieren muss.
Der Bürgermeister berichtet, dass zur Zeit die Vorbereitungen für den Winter laufen. Es sind ca. 30 Organisationen und Unternehmen aus Polen und aus der internationalen Gemeinschaft beteiligt.
Der Bürgermeister berichtet, dass zur Zeit die Vorbereitungen für den Winter laufen. Es sind ca. 30 Organisationen und Unternehmen aus Polen und aus der internationalen Gemeinschaft beteiligt.

„Die Würde jedes und jeder einzelnen im Mittelpunkt“ – Jesuitenflüchtlingsdienst für die Erstaufnahme sowie gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration

„Es fällt auf, dass es in ganz Polen keine Flüchtlingslager wie in anderen Gegenden der Welt gibt.“ – berichtet auch Pater Valery Osmolovsky SJ vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten (JRS). Die Hilfsbereitschaft in Polen erscheint grenzenlos. Viele Familien rückten zusammen, Pfarrgemeinden stellten ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Dies liegt einerseits daran, dass für viele Menschen in Polen klarer als anderswo in Europa ist, dass in diesem Krieg auch für ihre Freiheit gekämpft wird. Andererseits gab es bereits bis Februar 2022 rund 2 Mio. Ukrainer – vor allem Arbeitsmigrantinnen, zum kleineren Teil Geflüchtete aus der Ostukraine – die sehr schnell Netzwerke bilden konnten. Im Zentrum der Hilfe des JRS steht die Würde jedes einzelnen Flüchtlings – was sich zum Beispiel auch in der Espresso-Ration für Erwachsene widerspiegelt, die der JRS geordert hatte, und deren Sinn nicht jeder hilfswilligen Organisation im Westen auf Anhieb klar gewesen sei: Auf entsprechende Nachfragen habe man geduldig erklärt, dass es sich keineswegs um überflüssigen Luxus handle, sondern die Minuten des gehobenen Kaffeegenusses für viele Menschen auch dieser Moment des „Trostes“ seien, wie sie vom Ordensgründer Ignatius dringend empfohlen werden. Daneben leisten die Jesuiten einen wichtigen Beitrag zur Erstversorgung und zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Integration geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie bringen Geflüchtete nicht nur in ihren eigenen Häusern und Partnerorganisationen unter, sondern unterstützen bei der Wohnungssuche, organisieren Beratung in psychologischen, rechtlichen und den Arbeitsmarkt betreffenden Fragen, organisieren Polnischkurse und vieles mehr. Eine besondere Sorge bereitet der Schutz allein reisender junger Frauen, damit sie nicht in die Hände von Menschenhändlern geraten und nach Deutschland gebracht werden, das wegen seiner Gesetzgebung ideale Bedingungen für organisierte Zwangsprostitution bietet. Trotz all dieser Bemühungen spricht Pater Valery von einer „verlorenen Generation“ von mindestens 20 Jahren und stellt einen Bezug zu den vielfachen Traumata-Erfahrungen in der Ukraine z.B. aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch lange Auswirkungen gehabt hätten. Der Versöhnung zwischen Ukraine und Russland gibt der Jesuit derzeit keine realistische Chance: Solange unsägliches Leid und große Zerstörung seitens der einen Seite entsteht und nicht um Vergebung gebeten wird, kann es auch kein Verzeihen der anderen Seite und damit auch keine Versöhnung geben.

Alt, krank und sterbend auf der Flucht – griechisch-katholische Schwestern lindern die Not der oft Vergessenen

Einen anderen wichtigen Dienst verrichten die griechisch-katholischen Dienenden Schwestern: Sie haben in ihrem Ökumenischen Zentrum der Alten- und Krankenpflege in Przemysl alte und pflegebedürftige Menschen aus der Ukraine aufgenommen und pflegen sie liebevoll. Alle Schwestern haben eine medizinische Ausbildung und werden in ihrer Arbeit unterstützt durch 40 Laienangestellte. Die geflüchteten Bewohner, mit denen kurz gesprochen werden konnte, betonen, dass sie in Przemysl ein „neues Leben“ beginnen konnten. Besonders beeindruckend ist die Station der Palliativpflege für schwer an Krebs erkrankte Patientinnen und Patienten aus der Ukraine. Im engsten Kreis konnte ein Gespräch mit Irina (Name geändert) geführt werden, die zwar ihre Familie in Charkiv zurücklassen musste, aber täglich telefonisch in Verbindung steht und unter der Obhut der Schwestern neuen Mut gefasst hat, immer wieder das Gehen übt und sogar Fortschritte macht. Die Herausforderung für die Schwestern: Für Patientinnen wie Irina gibt es keinerlei Erstattung eines Kostenträgers, für die älteren Bewohnerinnen und Bewohner des Seniorenheims nur einen geringen staatlichen Zuschuss. Zugleich steht das Haus wie alle anderen vergleichbaren Träger in Polen unter dem Druck von 17 Prozent Inflationsrate.

Bewährte Manager in Kriegssituationen – die römisch-katholische Caritas im Verbund mit anderen Organisationen

Die römisch-katholische Caritas schließlich ist ein Schwergewicht unter den kirchlichen Hilfsdiensten in der Stadt und Region Przemysl. Sie arbeitet eng mit dem Humanitarian Aid Centre und anderen Caritas Organisationen, wie etwa Caritas International) weltweit zusammen.
Die interkirchliche Zusammenarbeit scheint im Übrigen sehr gut zu laufen: Der Caritas-Direktor und der griechisch-katholische Seelsorger beim polnischen Grenzschutz arbeiten nach beider Angaben „hervorragend“ zusammen, wenn es darum geht, LKWs mit Hilfstransporten aus Polen - über die Tücken und Fußangeln beim Zoll an der EU-Außengrenze - zur Ukraine zu geleiten. In diesem Moment bekommt die Delegation eine Ahnung, was Katholizität alles bedeuten kann. Kritisch dagegen die Aussagen des – seit 1907 bestehenden – ukrainischen Kulturzentrums in Przemysl, das mit 800 Ehrenamtlichen (bis 24.2. 70!) insgesamt 5000 Übernachtungen organisierte: Auf die Frage nach der Zusammenarbeit mit den Kirchen bleiben sie äußerst zurückhaltend, obwohl sie Räumlichkeiten von der griechisch-katholischen Erzdiözese für einen symbolischen Zloty vermietet bekamen, in ihren Augen allerdings im renovierungsbedürftigen Zustand. Hier bleibt ein Widerspruch.

Die Angst ist weg – ein (zufälliger) Frontbericht „von unten“

Wie geht es weiter? Folgt man Dmitrij (Name geändert), der mit seiner Familie auf einem kurzen Fronturlaub in Przemysl ist und in wenigen Tagen zurück in die Ukraine fährt, so ist die „zweitgrößte Armee der Welt“ in den Augen der ukrainischen Soldaten entzaubert, die Angst vor den russischen Soldaten ist verschwunden. Er ist zufällig auch als Gast im Bildungshaus „Effata“ der Dienenden Schwestern und gibt während eines Frühstücks bereitwillig Auskunft. Die Monate Februar bis April seien sehr schwierig gewesen, man habe Vieles improvisieren müssen. Er selbst musste sich als eigentlich dienstuntauglicher Soldat in der Territorialverteidigung freiwillig melden und sich für 600 Euro eine Grundausstattung einschließlich Kalaschnikow, Schlafsack etc. kaufen. Er präsentiert im gleichen Atemzug treuherzig seinen – zeitlich bis 2023 befristeten – Waffenschein, um die Legalität seines Handelns zu unterstreichen. Die Notwendigkeit zu kämpfen habe er in keinem Moment bezweifelt. Fast anrührend die Geschichte von seiner Begegnung mit einem alten polnischen Mann am Flughafen Lviv, wo er am 24.2.2022 als Angestellter in der Flugsicherheit arbeitete. Der Pole habe ihm gesagt: „Geh‘ kämpfen, bringe Deine Familie vorher noch zu uns in Sicherheit, wir passen auf sie auf, aber dann geh‘ und kämpfe.“ Die Entschlossenheit habe sich bei ihm noch verstärkt, als er mit Kameraden nach den Kämpfen in Irpin und Butscha ein russisches Graffiti in einem stark geplünderten und zerstörten Haus entdeckt habe: „Wer hat euch erlaubt, so gut zu leben?“. Ein halbes Jahr später ist Dmitri zusammen mit seinen Kameraden (darunter auch zwei Russen aus den „Freien Russischen Streitkräften“ – Deserteure und Überläufer, die in Bataillonsstärke mit eigener Fahne unter ukrainischem Kommando kämpfen) überzeugt: Es dauere nicht mehr lange, bis die russische Armee geschlagen ist. Dafür gebe es viele Anzeichen, wie der Zustand des eroberten russischen Materials, die Aussagen von Gefangenen und die langsamen, aber unaufhaltsamen eigenen Fortschritte bei der Rückeroberung des besetzten Gebietes. Er sei dem Westen und auch Deutschland dankbar für das bisher gelieferte Gerät – so müsse man nicht mehr, wie in den ersten Wochen, unter Lebensgefahr die russischen Kolonnen von der Seite aus dem Schutz von Wäldern mit Gewehren angreifen, sondern könne feindliche Kolonnen über 40 oder 50 Kilometer Entfernung auf Distanz bekämpfen. Im Augenblick seien weitere Luftabwehrkomponenten wichtig, damit sich ein Tag wie der 10. Oktober nicht wiederhole, wo man 70 Prozent der angreifenden Raketen, Flugzeuge und iranischen Kamikaze-Drohnen habe abwehren können, die Abwehr der restlichen 30 Prozent aber schlicht am fehlenden Material in der Fläche gescheitert sei: Der Gegner ist mit seinen Fluggeräten in den für ihn typischen „Angriffswellenbewegungen“ an verschiedenen Stellen durchgebrochen. Für die Ukraine gebe es insgesamt „keine Alternative“ zum Sieg und zur vollständigen Befreiung des besetzten Territoriums.

Zusammenfassung

Insgesamt fällt der Delegation auf, dass die allermeisten Beteiligten zur Zeit in einer Art „Tunnel“ sind, in dem sie die großen täglichen Herausforderungen meistern. Es wird viel geleistet und auf einem hohen professionellen Niveau gearbeitet. Gesellschaftliche Gräben zwischen Parteien, Kirchen und Organisationen werden für einen Moment zugedeckt. Die Zeit wird zeigen, wie nachhaltig dies ist. Insgesamt fällt es auf, dass die Sorgen und Bedenken in Deutschland beinahe größer scheinen, als die der Menschen hier vor Ort. Viele strahlen eine ernste, jedoch ruhige Entschlossenheit aus, auch wenn man noch am 10. Oktober die Einschläge von Raketen im Raum Lviv bis in die Stadt Przemysl hören konnte. Aber vielleicht kommt es daher, dass die Menschen in diesem Teil Europas die Angst vor dem Aggressor, die sie jahrzehntelang verspürten, langsam zu verlieren beginnen – ein „1989 reloaded“.

Inhalt erstellt: 25.10.2022, zuletzt geändert: 26.10.2022

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