Andrei Pliachko baut bereits sein zweites Start-up auf, wird aber bald nach Los Angeles gehen. Obwohl die IT-Branche in Belarus gefördert wird, ist es für die meisten Spezialisten auf diesem Gebiet attraktiver im Ausland zu arbeiten.
Andrei Pliachko baut bereits sein zweites Start-up auf, wird aber bald nach Los Angeles gehen. Obwohl die IT-Branche in Belarus gefördert wird, ist es für die meisten Spezialisten auf diesem Gebiet attraktiver im Ausland zu arbeiten.
Quelle: Felix Adler, n-ost
Reportage

Komputerismus in Belarus

Belarus will zum High-Tech-Land Osteuropas werden. Die wirtschaftliche Offensive in diesem Feld ist aber vor allem eine Defensiv-Verteidigung gegen Vereinnahmungspolitik Moskaus. Eine Reportage von den n-ost-Korrespondenten Stefan Schocher (Text) und Felix Adler (Foto), Minsk.

Dieser Beitrag stammt aus der gemeinsamen Artikelreihe „Lernen ist Leben“ von Renovabis und n-ost. Eine Reportage von Stefan Schocher (Text) und Felix Adler (Foto), Minsk.

Minsk – Im ersten Stock des Marriott Hotels in der belarussischen Hauptstadt Minsk summt und surrt es. Drohnen zischen durch die Gänge, hier ein Roboterarm, da ein innovatives Gewächshaus, dort eine noch innovativere IT-Lösung. Deko aus Kartonrohren und ganz viel unverbindliche Freundlichkeiten, garniert mit noch mehr Motivationssprüchen. Trotzdem: Das hier ist kein Sammelplatz für Spielereien.

Global Entrepreneurship Week nennt sich die Veranstaltung. Den Namensbadge der Messe trägt man hier mit Stolz. Man sieht sich als Elite. Widersprüchlich sind Hipster Charme einerseits und post-sowjetische Ästhetik andererseits nur auf den ersten Blick. Denn hier wird Geld gemacht. Geld, das der belarussische Staat dringend braucht. Und daher schaut auch der Premierminister von Belarus, Sergei Rumas, auf der Messe vorbei, stolziert durch die Reihen der Aussteller, probiert das eine oder andere Exponat aus, lässt sich die Aussteller erklären.

An einem dieser Stände steht Andrei Pliachko. Er hält ein Headset in Händen, das Gehirnströme misst. Über Entspannung und Konzentration lassen sich damit Tablet- und Smartphone-Spiele oder eine Roboter-Spinne steuern. Ein Gadget für die Arbeit mit ADHS-Patienten oder Kindern mit Autismus. Auch Minister Rumas probiert so ein Headset aus, nickt zustimmend, stellt Fragen. Fotos werden gemacht. Andrei Pliachko wird sie später stolz in den sozialen Netzwerken teilen.

Vom Meditationstrainer zum Startup-Gründer

Andrei lächelt viel. Er ist gelernter Pädagoge. Das Headset-Projekt ist schon sein zweites Startup, das er zusammen mit einem Business-Partner hochgezogen hat. Andrei erzählt von seinem Leben, gestikuliert ausladend. In Kiew habe er gelebt, in Lemberg, in den Karpaten. Er lacht. Ein Hippie sei er gewesen. Damals. Ein Kampfsportler und Meditations-Trainer. Lange Haare, Rastazöpfe. Dann hat er sich den Kopf rasiert, ist zurück nach Minsk gegangen. Heute trägt er ein gebügeltes Hemd und bewirbt sein Produkt. Eines, wie er sagt, zu dem er schon vor einigen Jahren die Idee gehabt habe. Damals hätten ihn die Offiziellen in Belarus noch verspottet. Heute zeigt sich der Premierminister sehr interessiert.

Roboterarm auf der Global Entrepreneurship Week im Marriott Minsk.
Roboterarm auf der Global Entrepreneurship Week im Marriott Minsk
Quelle: Felix Adler
Lenin Statue vor dem Parlament.
Lenin Statue vor dem Parlament.
Quelle: Felix Adler

Die belarussische Führung steht Veränderungen - vor allem Freiheiten – generell skeptisch gegenüber. Aber beim Startup-Business ist sie einen Kompromiss eingegangen: Der IT-Sektor war in dem Land schon immer stark, 2017 wurde deshalb ein High-Tech-Park (HTP) gegründet – kein physischer Park, mehr ein Regime aus Gesetzen und Regelungen, in dem ausgewählte Startups Steuerfreiheiten, Begünstigungen vor allem aber auch Förderungen genießen. Neben chemischer Industrie, Traktoren und Landwirtschaft wird nun von hochoffizieller Seite des Staates auf IT und High-Tech gesetzt.

In den Gängen des Marriott hört man nur Gutes dazu. Kritiker jedoch sprechen von einem Staat im Staat, der durch die Sonderregelungen für die Branche entstanden sei. Von einem Hongkonger Modell ist die Rede – nur ohne territoriale Trennung.

Minsk setzt auf Diversifizierung der Wirtschaft

Das unmittelbare Ziel der Regierung in Minsk liegt auf der Hand: Investments in Land holen, den Export von High-Tech-Gütern und IT fördern. Güter, die überwiegend in den Westen gehen. Das langfristige strategische Ziel: Belarus` Abhängigkeit von russischen Rohstoff-Rabatten reduzieren. Das vor allem angesichts sich rasant verschlechternder Beziehungen zwischen Minsk und Moskau. Denn dieser schleichende Konflikt bedroht nicht weniger als das wirtschaftliche Rückgrat des Landes.

Schon in naher Zukunft wird Russland seine Gas- und Öl-Preise für Belarus dem Weltmarktniveau anpassen. Der ineffizienten staatseigenen belarussischen Industrie droht damit der Kollaps. Derzeit gilt noch ein 30-Prozent Rabatt. Früher waren es 50 Prozent. Und auch damit war die staatliche Industrie alles andere als profitabel.

Der Stachanow des 21. Jahrhunderts, er soll aus der Sicht der Führung nicht mehr in Fabriken, auf dem Feld schuften oder im Schacht nach Kohle hacken. Er hackt Big-Data, Business Solutions, Innovationen. Er arbeitet in staatlichen Coworking Spaces, Inkubatoren oder Hubs: Sein Schlaghammer ist der Laptop. Die Kohle fördert er zurückgelehnt, Latte aus einem Mug schlürfend, auf einem Sitzsack fläzend.

Andrei Pliachko ist Gründer eines Start Ups das Headsets zum Auslesen von Hirnströmen entwickelt - so können Apps gesteuert werden - Ziel ist die Behandlung von ADHS Patienten
Andrei Pliachko ist Gründer eines Start Ups das Headsets zum Auslesen von Hirnströmen entwickelt - so können Apps gesteuert werden - Ziel ist die Behandlung von ADHS Patienten
Quelle: Felix Adler
8:42 in Brest - Belarus hat Moskauer Zeit und und stellt wie Russland nicht auf Winterzeit um - als Konsequenz wird es im Winter erst gegen 9:30 hell
8:42 in Brest - Belarus hat Moskauer Zeit und und stellt wie Russland nicht auf Winterzeit um - als Konsequenz wird es im Winter erst gegen 9:30 hell
Quelle: Felix Adler

Erst Geld verdienen, dann das Land verlassen

„Die Nation braucht Programmierer“ steht auf dem Poster einer privaten Schule an einer U-Bahn-Station im Zentrum der Stadt. In sowjetischem Propaganda-Plakatstil dargestellt sind zwei bärtige junge Männer. Der eine trägt dickrandige Brille, der andere eine Fliege. Sie blicken in ihren karierten Hemden mit strengem Blick in die Zukunft. Der Programmierer ist der neue Held der Arbeit. Es ist zwar das Plakat einer privaten Programmierschule, aber die Botschaft entspricht der Staatsräson.

Die Technische Universität von Minsk bildet derzeit einen Gutteil der neuen IT-Elite: Lange Gänge, verschlossene Türen, viele Fragen, woher denn das Interesse an dem Thema komme. Der Rektor der Uni verweist gerne auf Spezialisten. Selbst will er nicht viel sagen, wehrt ab, verweist auf eine höhere Instanz, die man fragen müsse. Er sei das nicht.

Nicht auf den Mund gefallen sind dagegen seine Studenten. Einer sagt, er wäre viel lieber in Spanien – besseres Klima, besserer Lebensstandard, stabilere Wirtschaft. Und dann noch, nach einigem Zögern eines, bei dem der junge Mann sehr leise und nahezu zum Bauchredner wird: „Freiheit“. Aber: Um weggehen zu können, müsse man erst einmal gescheit verdienen. Und am besten verdienen lässt sich in Belarus eben im IT-Sektor.

In seinem Seminar ist der junge Mann eher in der Minderheit. Die meisten seiner Kommilitonen wollen vor allem einmal eines: Gut verdienen und ein komfortables Leben, neue Sneaker, Markenkleidung.

Lyubov Mayorova Senior Manager Global Cooperation des Hi Tech Park - einer Organisation für IT Unternehmen deren Mitglieder steuerbefreit sind.
Lyubov Mayorova Senior Manager Global Cooperation des Hi Tech Park - einer Organisation für IT Unternehmen deren Mitglieder steuerbefreit sind.
Quelle: Felix Adler
Werbetafel im chinesischen Great Stone Industrial Park - für Chinasoll der riesigen Park als Tor zu Europa dienen - ohne die komplizierten Gesetze der EU natürlich.
Werbetafel im chinesischen Great Stone Industrial Park - für Chinasoll der riesigen Park als Tor zu Europa dienen - ohne die komplizierten Gesetze der EU natürlich.
Quelle: Felix Adler

Obwohl die Szene in Minsk boomt, locken die Märkte im Westen

Die Clubs und Restaurants sind voll am Freitag-Abend. Man reserviert Tische für große Runden, trifft sich zu Cocktails und kleinen Häppchen. Da sitzen sie dann bei Vorspeisen für umgerechnet 10 Euro und ebenso teuren Cocktails. Das durchschnittliche Einkommen in Belarus liegt bei umgerechnet 500 Euro: Junge Burschen und Mädchen, pinke Haare, gedehnte Ohrlöcher, frisch gestochene Tattoos, modisch bedruckte T-Shirt – eine Zigarre in der Hand.

„Die Menschen im Land zu halten“, sagt Kirill Zalessky, Verantwortlicher für Außenbeziehungen im High-Tech-Park am Rande von Minsk, sei Priorität für den belarussischen Staat. Zu Viele sind gegangen in den vergangenen Jahren, haben sich im Ausland eine Existenz aufgebaut: In der Schweiz, den USA, Doha. Das soll sich ändern.

Andrei ist zurückgekommen – vorläufig. Denn eigentlich, sagt der 40-Jährige, sei der Plan in die USA zu gehen, wo sein Partner bereits eine Zweigestelle aufgemacht hat. Der Markt sei dort einfach größer.

In den Hallen des Marriott ist er der einzige, der das Thema anspricht. Geschweige denn wird von Politik geredet. Bestenfalls soviel: „Super ist es in Minsk, das Business floriert.“ Es geht um niedrige Steuern, hohe Gehälter und um Investitionen; nicht um die soeben abgehaltenen Wahlen, bei denen kein einziger Oppositioneller den Einzug ins Parlament schaffte. Solange das Business-Klima passt, ist alles gut.

„Wieso soll ich weggehen?“ so fragt ein junger Unternehmer. Ein Star in der Minsker Szene: Smart, gewandt, leger. Das Internetzeitalter erlaube es doch, von der heimischen Couch aus Deals in der ganzen Welt abzuschließen.

2.000 IT-Experten administrieren weltweite Panzer- See und Luftschlachten

Tatsächlich hat der IT- und Hightech-Sektor massive Zuwächse. Der Markt boomt und schafft ebenso gut bezahlte wie begehrte Jobs. Minsk ist, was die IT-Branche angeht, längst kein Geheimtipp mehr. Internationale Unternehmen haben sich angesiedelt. Heimische Unternehmen expandieren weltweit. Etwa der Softwarehersteller EPAM oder der Onlinegaming-Anbieter Wargaming mit alleine in Minsk 2.000 Mitarbeitern. In einem Glaspalast programmieren sie für weltweite Kunden Online-Panzer-, See-, und Luftschlachten. Wargaming ist mittlerweile ein Weltkonzern mit 18 Standorten um den Globus. Werbelogos der Firma finden sich sogar auf Flugzeugen der staatlichen Airline Belavia. Man präsentiert sich als das Google der Onlinegamingszene: Offene Büros, Gemeinschaftsräume, Kaffeeküchen, Obst und Kekse für alle. An der Wand: in Holz gravierte Zitate des Firmengründers.

Andrei Yahorau ist skeptisch. Der IT-Experte beschäftigt sich mit Kryptowährung, mit Menschenrechten und der politischen Lage in Belarus. Da fangen sie dann sehr rasch an, die Probleme. Sein Büro hat Andrei Yahorau in einem Vorort von Minsk. In einem Einfamilienhaus, das eine Gruppe von NGOs und Menschenrechtsgruppen erworben hat, nachdem die Probleme mit Vermietern nicht abreißen wollten. An Menschenrechtler zu vermieten, ist ein Risiko in Belarus.

Das Land verhängt und vollstreckt als einziger noch verbliebener Staat in Europa die Todesstrafe. Politisch motivierte Anklagen gehören zum Alltag. Aufbegehren gegen Obrigkeiten und den Präsidenten wird geahndet.

„Es hat sich eine IT-Parallelgesellschaft etabliert“

Andrei Yahorau sieht vor allem ein Problem: Dass sich durch die parallele Wirtschaft im IT-
und High-Tech-Bereich eine parallele Gesellschaft entwickelt habe. Eine, die von der sozialen und ökonomischen Realität im Land entkoppelt sei. Eine neue Klasse, die im selbstgemachten IT-Ghetto lebt und nur am Konsum interessiert sei, anstatt an politischer Partizipation.

Auch im Kindergarten „Nr. 372“ in einem Plattenbauten-Block am Stadtrand wird an der Zukunft gearbeitet. Die Kinder stehen in Reih und Glied, bis der Kurs „Informatik ohne Steckdose“ beginnt, ein Pilotprogramm, das vom HTP entwickelt wurde. Die Kinder sind zwischen fünf und sechs Jahren alt. Geboten wird ein halbstündiges analoges Logiktraining. Denksport für die Kleinsten, die dem Land eine leuchtende Zukunft bescheren sollen. Sie haben ihre Köfferchen mitgebracht. Der Inhalt: Aufgabenblätter, Stifte und – so wie die Großen auf den Messen und Kongressen – ein Namensbadge. Was man eben so braucht im Programmierer-Leben.

In den Hallen des Marriott wird indes die Kartondeko abgebaut, Scheinwerfer werden weggetragen. Die Entrepreneurship Week neigt sich dem Ende zu. Nur in einem Raum wird noch gefiebert. Vor einer Jury können sich Startups präsentieren. Drei Minuten haben sie. Danach werden sie mit Fragen „gegrillt“, wie die Einpeitscherin des Abends nicht müde wird zu betonen. Dem Sieger winkt ein Preisgeld. Es riecht nach Angst und Nervosität. Eine junge Frau in modernem Outfit präsentiert ihre Fitness-Innovation und schafft es kaum, einen Satz zu beenden. Sie trabt betrübten Blickes von der Bühne. Einem jungen Mann in schlechtsitzendem Anzug geht mehrmals die Luft aus bei der Vorstellung seiner IT-Lösung.

Dann ist Schluss. Durch die Korridore rollen Transportwägen. Gesichtsbad in der Lobby. Visitenkarten werden ausgetauscht. Und dann ist das Marriott wieder ein ganz normales schickes Gästehaus inmitten einer Plattenbauwüste.

Inhalt erstellt: 12.02.2020, zuletzt geändert: 24.02.2020

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