Quelle: Ekaterina Anokhina
Dieser Beitrag stammt aus der gemeinsamen Artikelreihe "Lernen ist Leben" von Renovabis und n-ost. Eine Reportage von n-ost-Korrespondent Oliver Bilger, Karinskoje.
Mittwoch, Viertel nach elf. Vierte Stunde: Mathematik. Im Klassenzimmer steht Alexander Jadrin. Vor ihm sitzen, an Zweiertischen aus hellem Holz, sieben Schüler der elften Klasse. Auf dem Stundenplan steht die Vorbereitung für die große Abschlussprüfung, heute: Geometrie und Algebra.
Der letzte Test in der Schulzeit ist sehr wichtig, denn er entscheidet, an welcher Universität die Abgänger sich einschreiben können. Obwohl nur ein Sommer zwischen letzter Schulstunde und Semesterbeginn liegt, führen Zukunftsfragen zu: Schulterzucken. „Ich weiß nicht, wie es weitergeht“, erklärt Roma, ein junger Mann in kariertem Hemd. Marina schüttelt den Kopf. Polina winkt ab. Die junge Frau im schwarzen T-Shirt und Karo-Hosen verkündet: „Ich brauche erst die Noten, um eine Entscheidung zu treffen.“ Anastasia in der ersten Reihe, blonde Haare, gestreiftes Top, immerhin weiß: Sie möchte Tierärztin werden.
Viele Schüler trauen sich das Abschlussexamen nicht zu
Lehrer Jadrin würde sich klarere Antworten wünschen. Über vier Jahre hat er die Klasse begleitet. Es waren seine ersten Schüler, die er als junger Pädagoge übernahm. Der junge Mann arbeitet als Lehrer in Karinskoje, einer von 27 für insgesamt 272 Kinder.
Karinskoje ist ein kleines Nest mit knapp 1.500 Einwohnern, 70 Kilometer westlich von Moskau. Wo man einen Speckgürtel um die Metropole erwarten könnte, beginnt hinter der Stadtgrenze schnell Tristesse: Graue fünfgeschossige Plattenbauten, es gibt einen kleinen Supermarkt und ein georgisches Restaurant. Moskau ist nah und dennoch unerreichbar. Manche Schüler aus dem Dorf waren noch nie in der Hauptstadt. Viele gehen ab nach der 9. Klasse, weil sie sich das Abschlussexamen nicht zutrauen. Jadrin möchte seinen Schülern zu mehr Chancen verhelfen. Seine Schule ist eine staatliche Einrichtung, dennoch unterscheidet sich von anderen.
Diese Schule will anders sein
Die Klassenräume und Flure sind hell. Viele Türen zu den Klassenräumen haben die Schüler bemalt: Ein knallrotes Herz mit Arterien leuchtet am Schullabor. Der Schattenschnitt einer Kamera weist den Weg zum Film- und Theaterkabinett. In Klassenräumen wachsen Topfpflanzen. Die Schule Karinskoje will anders sein.
Alles andere als gewöhnlich ist auch Jadrin. Mit seinen 196 Zentimetern Körperlänge überragt er jeden auf dem Schulflur. Ein Schlacks mit Vorliebe für Hosenträger und Fliege. Er trägt ein dünnes Bärtchen und das Haar gescheitelt. Mit 30 Jahren ist er deutlich jünger als die meisten seiner Kollegen.
In Russland unterrichten viele über den offiziellen Ruhestand hinaus, um ihre Rente aufzubessern. Entsprechend überholt sind ihre Methoden im Unterricht: lehren wie zu Sowjetzeiten. Sie sind nicht nur altmodisch, sondern auch streng; sie bestrafen Kinder, schreien sie an, auch in Karinskoje kommt das noch vor. Ein weiteres Problem: Der Beruf des Lehrers ist nicht sonderlich begehrt. Nur etwas mehr als umgerechnet 300 Euro bekommen sie hier. So fehlt es an Lehrern; vor allem an jungen, motivierten und innovativen.
Ein Programm gegen die Krise des Schulsystems
Seit sechs Jahren versucht eine privat gegründete Initiative, dem Lehrermangel etwas entgegenzusetzen. Damals riefen Lena Jarmanowa und Aljona Markowitsch das Programm „Lehrer für Russland“ ins Leben: Junge Absolventen können als Lehrer auf Zeit arbeiten – zwar ohne vorheriges pädagogisches Studium, aber mit einem Spezialtraining und einem zweijährigen Stipendium, das das magere Gehalt kompensiert. Die neuen Lehrer sollen ihre praktische Erfahrung in den Unterricht einbringen. „Wir schicken Vorbilder, die die Schulen ohne unsere Lehrer nicht hätten.“ Die Lehrer, erklärt die 31-Jährige, sollen den Schülern neue Möglichkeiten aufzeigen, etwa bei der Berufswahl, die in abgelegenen Regionen oft unerreichbar scheinen.
„Jedes Kind ist Autor seines eigenen Lebens“, lautet die Philosophie des Programms, mit dem es die Schüler motivieren will. Die Schule in Karinskoje war die erste im Moskauer Umland, die ihre Türen für die „Lehrer für Russland“ öffnete. Jadrin war unter den ersten und blieb nach den zwei Jahren an der Schule.
„Neugier ist wie eine Kerze“
Viertel nach zwölf. Fünfte Stunde: Physik. Jadrin erklärt jetzt seiner 9a Funktion und Bedeutung von Röntgenstrahlen. Er erklärt, wer Marie Curie war, was Becquerel bedeutet und was Radioaktivität ist. Mit Kreide malt er Atome an die Tafel. Jadrin will Neugier und Kreativität in seinen Schülern wecken. „Ich versuche, Ihnen Dinge zu geben, die sie diskutieren können“, sagt er. Sich vor die Schüler zu stellen und zu referieren, das ist nichts für ihn: „Ich will, dass die Schüler Fragen stellen, denn wer Fragen stellt zeigt, dass er denkt.“
„Neugier“, findet der junge Lehrer, sei „wie eine Kerze.“ „Ich kann die Kerze den Schülern geben, aber jedes Kind muss sie selbst entzünden.“ Er möchte seine Schüler ermutigen, ihre Zukunft selber zu gestalten: „Es geht darum, ein Ziel im Leben zu haben.“