09.10.2020 – Hintergrund

Renovabis hilft vertriebenen Familien im Bergkarabach-Konflikt

Rund 50 vertriebene Familien aus der umkämpften Kaukaus-Region Bergkarabach können jetzt nahe Gyumri in einer Einrichtung der Caritas Armenien untergebracht werden. Renovabis unterstützt mit einer Soforthilfe von zunächst 30.000 Euro.

JEREVAN / FREISING. Rund 50 vertriebene Familien aus der umkämpften Kaukaus-Region Bergkarabach können jetzt nahe Gyumri in einer Einrichtung der Caritas Armenien untergebracht werden. Mit einer Soforthilfe von zunächst 30.000 Euro hilft das katholische deutsche Osteuropa-Hilfswerk Renovabis: Die von dem Krieg in ihrer Heimat unschuldig Betroffenen – darunter mehrheitlich Frauen und Kinder – werden in einem früheren Sommerferienlager untergebracht. Für die nächsten zwei Monate ist für die Familien der Aufenthalt beim bewährten örtlichen Renovabis-Projektpartner durch die Finanzierungszusage aus Deutschland erst einmal gesichert.

In der Konfliktregion im Südkaukasus kommt es seit Mitte September zu schweren Kämpfen entlang der gesamten Front im Gebirge zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Zivilbevölkerung wird durch die Kampfhandlungen zur Flucht aus Bergkarabach in Richtung armenisches Kernland gezwungen. Schätzungen zufolge seien mittlerweile etwa die Hälfte der Bevölkerung Bergkarabachs auf der Flucht, darunter etwa 90 Prozent aller dort beheimateten Frauen und Kinder, wie Renovabis von Projektpartnern in der Region erfahren hat.

Armenischer Erzbischof: EU soll in Bergkarabach eingreifen

Der armenisch-katholische Erzbischof Raphael Francois Minassian hat das Eingreifen der Europäischen Union im neu aufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach gefordert: „Wir bitten um konkrete Maßnahmen, damit der bewaffnete Konflikt ein für allemal beendet wird“, sagte Minassian in einem von der Katholischen Nachrichtenagentur unlängst zitierten Statement im italienischen Pressedienstes SIR. „Menschliches Leben ist viel kostbarer als Öl und Gas. Lassen Sie uns verhindern, dass eine Handvoll Dollar einen Krieg auslöst und Menschen sterben lässt. Dieser Wahnsinn muss gestoppt werden“, appellierte Erzbischof Minassian.

Die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan streiten seit Jahrzehnten erbittert um die Region im Südkaukasus, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Vor drei Wochen entbrannten die Kämpfe neu. Die selbsternannte „Republik Bergkarabach“ wird international nicht anerkannt; völkerrechtlich ist sie Teil Aserbaidschans. Wie es hieß begannen aserbaidschanische Truppen mit massivem Beschuss und Panzerangriffen - allerdings ist nicht klar, ob diese Darstellung der Wahrheit entspricht; genauso wie die Meldungen, dass türkisches Militärpersonal zusammen mit Dschihadisten, die zuvor in Syrien kämpften, die aserbaidschanischen Truppen unterstützen. Propaganda spielt offensichtlich bei der Entwicklung der Situation eine entscheidende Rolle. Ziel der Operationen auf aserbaidschanischer Seite ist offenbar die Rückgewinnung der Kontrolle über die mittlerweile sich selbst Republik Artsakh bezeichnende Region; damit in Verbindung steht, die armenische Bevölkerungsmehrheit aus der Region zu verdrängen.

Dringend nötig: Psychologische und seelsorgerische Hilfe

Einer der Renovabis-Projektpartner in Armenien ist Dr. Harutyun Harutyunyan. Der Theologe ist selbständiger Berater und Projektentwickler bei der Syunik-Development NGO und der Diözese der Armenischen Apostolischen Kirche in Vayots Dzor, Armenien.

Herr Dr. Harutyunyan, wie geht es den vielen Menschen, die vor den Kampfhandlungen geflohen sind und jetzt im Kernland von Armenien aufgenommen und versorgt werden?

Allein in unserer Diözese befinden sich schon über 2000 Flüchtlinge – und es kommen immer neue dazu. Wir haben alle Jugendherbergen und Hotels bereits voll besetzt. Die meisten Menschen brauchen nicht nur Kleidung und Verpflegung, sondern an erster Stelle psychologische und seelsorgerliche Unterstützung, weil sie schwer traumatisiert sind. Es ist unklar, ob und wann sie zurück nach Bergkarabach reisen können, zumal die meisten ihre Häuser schon verloren haben. Wir haben auch mehrere Kinder, die das Leben in den Bunkern und Kellern nicht ertragen konnten und deshalb zuerst ohne Eltern nach Armenien gebracht werden mussten. Sie haben richtig Angst und zittern, wenn sie ein Flugzeug am Himmel sehen oder hören.

Bergkarabach ist seit vielen Jahren Konflikt-Region. Die Hauptforderung aus dem Ausland und auch des Papstes lautet: Der Konflikt muss ohne Waffen zum Frieden führen. Was können die Kirchen konkret tun, um eine friedliche Lösung zu unterstützen?

Wir stehen vor einer humanitären Katastrophe. Unsere Jahrhunderte alten Kirchbauten werden gerade vernichtet. Wenn die armenische Enklave in Bergkarabach besetzt und die Bewohner vertrieben werden, droht im Südkaukasus eine Konzentration radikaler islamischer Kräfte. Die Türkei nutzt diese Instabilität offenbar für eigene Machtinteressen, ähnlich wie in Libyen, im Irak und in Syrien. Angesichts der derzeitigen Kampfhandlungen müssten die Vertreter aller Kirchen und Glaubens-gemeinschaften klare Worte finden und die Angriffe gegen die armenische Zivil-Bevölkerung verurteilen.

Die benachbarten Großmächte haben erheblichen Einfluss in der Region. In Armenien sind auch in Friedenszeiten russische Soldaten stationiert. Wie steht die Bevölkerung dazu – gerade jetzt, wo der Konflikt wieder aufgeflammt ist?

Die meisten Einwohner erwarten mehr von Russland als bis jetzt gemacht wurde. Die russische Führung spricht bislang nur über ihre „Besorgnisse“. Selbst nach den Angriffen der aserbaidschanischen Luftwaffe Mitte Oktober auf das unmittelbare Gebiet Armeniens gab es keine klaren Ansagen unseres strategischen Partners. Daher wird das russische Kontingent von vielen Armeniern nicht wirklich wahrgenommen – weder im aktuellen Krieg noch als künftige potentielle Friedenstruppe. Zwar sind 5000 russische Soldaten an der südlichen Grenze stationiert und schützen uns vielleicht von den direkten Angriffen aus der Türkei – mehr sieht man aber von ihnen gerade nicht. Wenn man die Mitteilungen nach dem ersten offiziellen Telefonat zwischen Putin und Erdogan genau liest, sieht es für die Bürger beider südkaukasische Kontrahenten nicht gut aus: Die benachbarten Großmächte wollen natürlich alles unter sich entscheiden, ohne auf die lokale Bevölkerung zu hören. Im Gegenteil, die Menschen hier werden nicht wirklich wahrgenommen; viele fühlen sich gar an die Geschichte während des Genozids im Osmanischen Reich vor 105 Jahren erinnert…

Hintergrundartikel

Armenien und Aserbaidschan in der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven

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Die Kaukasusregion war zudem Thema von Ausgabe 4/2003 der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven (OWEP), die vierteljährlich von Renovabis und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken herausgegeben wird.

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Inhalt erstellt: 09.10.2020, zuletzt geändert: 16.10.2020

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